Dieser theoretischen Ausrichtung der Psychologie sollte besonders am Beginn einer konstruktiven Suchtarbeit ganz erhebliche Bedeutung beigemessen werden. Der Behaviorismus ist die Methode, die das „Handeln“ des Betroffenen oder Ratsuchenden in den Vordergrund stellt. Unzweifelhaft geht es hier um das „machen“ statt um das „darüber reden“.
Kenntnisse und Methoden der Verhaltenslehre werden dem Ratsuchenden in der Weise präsentiert, dass jeder zu einem aktiven Partner wird, der bereit ist Eigenverantwortung zu übernehmen. Ziel derart ausgerichteter Beratungsarbeit ist, erfolgreich Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Individuell abgestimmte Verhaltensmodifikationen lassen die Möglichkeit zu, dass der Ratsuchende aus seinen aktuellen Möglichkeiten schöpfen kann. Er benötigt die unbedingte Bereitschaft zum Lernen und sollte in diesem Grundverständnis bereit sein, die nötigen Willensleistungen zu erbringen.
Schnell umsetzbare Beratung in der Suchtarbeit hält Ausschau nach Verstärkungsmechanismen, die in der Umwelt des Betroffenen liegen, die aber auch das eigene Einbringen berücksichtigen. Priorität in der Beratung leitet sich aus dem einfachen Begriff der „Veränderung“ ab. Erfolgsorientierung im Behaviorismus bedeutet, Veränderungen herbeiführen. Untaugliches Verhalten soll schnellstmöglich abgestellt und durch neues positives Verhalten ersetzt werden.
Manifestieren sich erste Erfolge im Repertoire des Klienten wird es sinnvoll,
Intellektuelles verstehend zu integrieren, analytische Aspekte der Vergangenheit anzusprechen und insbesondere kognitive Faktoren in den Vordergrund zu stellen, z. B. Erwartungen, Werte,
Überzeugungen, persönliche Ziele usw. Beratung leistet hier die Vorarbeit für mögliche sinnvolle therapeutische Verfahren, die dann vom Klienten vor Ort beansprucht werden können und in aller
Regel auch den persönlichen Kontakt voraussetzen.
Den meisten Lesern ist der psychologische Fachbegriff des Lernens bekannt. Er bedeutet ganz einfach die Herstellung von Reiz-Reaktions-Verbindungen (Reflexologie). Aus der Schulzeit erinnern sich viele vielleicht an die Lehre des russischen Physiologen Ivan Pavlov. Was fand er mit seinen Versuchen zur klassischen Konditionierung heraus?
Nach Darbietung von Futter sondern Hunde Speichel ab, eine natürliche, biologische Reaktion, die nicht erst gelernt werden muss. Zur selben Zeit auftauchende Reize, z.B. der Anblick des Futters oder der fütternden Person, sind nach kurzer Zeit bzw. einigen Versuchsdurchgängen ebenfalls in der Lage, die Speichelabsonderung auszulösen. Die Tiere lernen also, eine Verbindung herzustellen zwischen einem ursprünglich neutralen Reiz (Futter) und in der unmittelbaren Nähe angesiedelten anderen Reizen bzw. Reizkonstellationen wie Wärter oder Versuchsleiter. Folge davon ist, dass die Reaktion Speichelabsonderung auf den neutralen Reiz Futter künftig durch das bloße Erscheinen des Wärters oder Versuchsleiters ausgelöst werden kann. Man nennt dies eine konditionierte Reaktion.
Immer dann, wenn es um klassische Konditionierung geht, geht es auch um physiologische Erscheinungen, z.B. reflexartiges Verhalten bzw. Abläufe. Derartige Reizbedingungen lösen bei Tieren Erregbarkeit aus. Auch diese kann sich dann verselbständigen und auf ähnliche Situationen übertragen werden, die ebenfalls Erregung auslösen. Folgendes Beispiel zeigt einen klassischen Konditionierungsprozess in diesem Sinne aus der eigenen persönlichen Betroffenheit:
Anfang der 80er Jahre, Westdeutschland, ein Landeskrankenhaus: Wie jeden Tag, so wurden wir auch heute früh geweckt. Aber heute ist ein besonderer Tag, ich werde um 8 Uhr morgens aus der Klinik entlassen werden. Zwei Wochen für einen Entgiftungsaufenthalt sind mal wieder vorbei. Trotz erheblicher Bedenken bei den mir vertrauten Personen habe ich durchgesetzt, alleine nach Hause fahren zu dürfen. Bevor ich die Station verlassen kann, bekomme ich noch mit, wie ein vor mir entlassener Kollege bereits wieder volltrunken eingewiesen wird. Ich stehe neben ihm am Bett und begreife ihn nicht.
Pünktlich um 8 Uhr verlasse ich dann die Klinik. Ich will zur nächsten Bahnstation und dann mit dem Zug nach Hause fahren. Nur wenige Meter nach Verlassen des Klinikgeländes komme ich an einem Lebensmittelgeschäft vorbei. Der Eingangsbereich des Geschäftes wird gerade geputzt. Mein Blick fällt auf das Schaufenster und ich sehe verschiedene Sorten Whiskyflaschen wunderschön dekoriert. Sofort und unweigerlich verkrampft sich mir der Magen und ich muss heftig würgen. Jeder, der Entzugserscheinungen kennt, weiß wie das ist. Ich bin gehe schnurstracks in das Geschäft und kaufe eine Flasche Schnaps. Anschließend trinke ich sie leer. Um Vorrat für die Heimfahrt zu besorgen, suche ich nochmal das Geschäft auf und decke mich mit einer weiteren Flasche ein. Dann trete ich die Heimreise an und komme volltrunken zu Hause an.
Auf mein Beispiel bezogen bedeutet klassische Konditionierung also: Der Blick bzw. die Wahrnehmung von Whiskyflaschen
bedingt automatisch ablaufende physiologische Reaktionsabfolgen im Nervensystem. Diese führen zu Würgen, Erbrechen und Verkrampfung des Magens. Daraus folgen Panik, Hilflosigkeit und die
Beendigung der Situation durch Trinken von Alkohol. Jeder Abhängige kennt die Situation aus der Bekämpfung von Entzugserscheinungen. Erstaunlich aber auch erschreckend ist die Macht, die hinter
der geschilderten Reaktionsabfolge steht. Ich war als Betroffener in der Situation völlig außerstande, nach Alternativmöglichkeiten zu suchen. Klassische Konditionierung führt also auf einer
Verhaltensebene nicht nur etwas aktiv herbei, sondern unterdrückt auch etwas wie z.B. Denkleistungen. Fatale Folgen können klassisch konditionierte Reaktionen haben, die zum Zeitpunkt der
Entstehung einen Nutzen für den Organismus hatten, welcher aber danach wegfällt. Bleibt die konditionierte Reaktion bestehen, wirkt sie selbstzerstörerisch.