Jeanne Marie Bouvier de la Mothe Guyon war eine Mystikerin des 17. Jahrhunderts. Sie war in dieser Zeit eine zutiefst gläubige Person, die in ihren Schriften den interessierten Lesern einen Weg zu Gott erschließen wollte. Ihrer Auffassung nach führt der Weg zu Gott über den Weg zu sich selbst, zum tiefsten Innern der menschlichen Kreatur. In ihrem ersten Buch (Auflage 1978 ISNB: 9783875981476) verweist Madame Guyon selbst auf eine mögliche therapeutische Relevanz z. B. für die Krankheit der „Trunkensucht“. Damit dürfte sie zu den ersten nicht-medizinisch orientierten Autoren gehören, die sich auch Gedanken über ein therapeutisches Konzept gemacht haben.
Dr. Manfred Köhnlechner kann hier weiterhelfen. In seinem Buch „Alkohol Droge Nr. 1“ beschreibt er folgendes: die erste Alkoholgewinnung passierte in der Mitte des 11. Jhd. Der damals entstandene Kodex des Magisters Salernus enthält die wohl früheste Beschreibung der Alkoholherstellung durch Destillation. Schon im 16. Jhd. Wurde der Konsum von Alkohol in Übermaßen zum Problem erklärt. Die Unmäßigkeit des Trinkens hatte alle Bevölkerungsschichten erfasst. In den Predigten der Geistlichen, z. B. auch denen von Martin Luther, wurde der „Saufteufel“ angeprangert. Im 30jährigen Krieg 1618 - 1648 wurde Alkohol zielgerichtet eingesetzt und damals als sog. „Wutzauber“ bezeichnet. Das Ritual des „Zutrinkens“ wurde bis zum 17. Jhd. als Hauptursache der Trunkenheit und Trunksucht aufgefasst. Diesen Negativaspekten standen jedoch auch positive gegenüber. So sorgten schon damals Steuererträge auf alkoholische Getränke für ergiebige Einnahmen der Landesherren und der Städte.
Mme Guyon definiert ihre geistliche Lehre als eine Heimkehr des Menschen zu Gott. Das Synonym für eine therapeutische Verwendung in dem Sinne dürfte der Aspekt der Findung des Menschen zu sich selbst sein. Das hat mit Sicherheit auch eine innere Reinigung (Katharsis), aber auch ein Suchen und Probieren zur Folge. Für Mme Guyon ist wesentlicher Teil des Menschen seine natürliche Neigung zu Gott hin. Sie sieht es als Aufgabe des Priesters an, diesem mächtigen Kriterium zu folgen und den Menschen auf seinem Veränderungsweg zu begleiten. Damit erkennt sie eindeutig das Medium des Bewusstseins als eine zentrale Institution im Menschen für jedwede Veränderung an. Im Spektrum des Bewusstseins spricht der Priester die Sünde an, allgemein bedeutet das, dass grundsätzlich nur im Zustande des Bewusstseins Veränderungen anzusprechen sind, und nur von diesem Zustand aus Änderungsabsichten Realität werden können. Zentrale Bedeutung erhält das Bewusstsein so in der Lehre von Mme Guyon.
Bewusstsein ist der zentrale allgemeine Zustand, in dem der Mensch sich befindet. Es ist die Instanz, die den Menschen zum Menschen macht. Bewusstsein ist kein Organ in uns, man kann auch keine Stelle im Körper entdecken, und dort das Bewusstsein zuordnen. Bewusstsein ist ein innerer Zustand, der über unser zentrales Nervensystem gespeist wird, und der uns permanent in einem Zustand der Ansprechbarkeit hält. So wird es möglich, dass wir wahrnehmen, z. B. Dinge in der Außenwelt oder Aktivitäten aus unserer Innenwelt, dass wir denken können und dass wir vor allem wissen, dass wir das tun. Über unser Bewusstsein wird unser Gedächtnis gespeist und in der Wechselseitigkeit damit eine Beeinflussungsgröße unseres Verhaltens gebildet. Unbewusste Einflüsse, aber auch nicht bewusste und vor allem körperliche Prozesse beeinflussen uns im Alltag. Vorbewusste Erinnerungen besitzen sogar die Fähigkeit, unser Verhalten in gewisser Weise zu steuern. Vieles wird unserem Bewusstsein erst zugänglich, wenn es unsere Aufmerksamkeit erregt.
Bewusstheit bedeutet bewusste Konzentration auf bestimmte Bewusstseinsinhalte.
Die Funktion des Bewusstseins markiert im Zeitverlauf eine Entwicklung, die von einem Leib-Seele bzw. Geist-Körper Monismus ausgeht, sich dann aber in eine dualistische Sichtweise aufsplittert, und letztlich doch wieder den Weg zu einer monistischen Einheit zurückgefunden hat. Damit wird für innere Zustände eine geistige Aktivität betont (mental states) und unserem Denken und Handeln so eine physiologisch-materielle Basis zugesprochen. Die Evolution des Menschen ist primär eine Evolution des Bewusstseins gewesen:
Natur à Bewusstsein, Reinigung, Aufmerksamkeit à Therapie, Veränderungsprozess.
Wie bereits angedeutet, spielt für das Verständnis der Person der Madame Guyon und im Hinblick auf ihre Lektüre „Die geistlichen Ströme“, die hier als Arbeitsgrundlage für einen Übertragungsprozess auf ein therapeutisches Geschehen dient, die Funktion des Bewusstseins eine tragende Rolle. Blickt man zurück in das 17. Jhd. war die Konstruktion Mensch unbedingt an das Vorhandensein einer Seele bzw. eines Seelenlebens gebunden. Streitfall schon damals in Fragen, wie letztendlich der Mensch zu betrachten ist, war entweder die monistische oder die dualistische Sichtweise. Fest steht, dass letztendlich beide das Kernproblem nicht lösen können. Vieles bleibt eine Frage der Perspektive. Zum Teil kommt es sogar darauf an, wie etwas dargestellt wird, um bestimmte Absichten zu erklären. Der jeweilige Ansatz als Erklärungsansatz diktiert dabei dann die Sichtweise. Das Leib-Seele-Problem spiegelt das Problem der Beziehung zwischen dem Geist (mind) und dem Gehirn (brain). Selbst Platon hat das schon beschäftigt und so den Dualismus begründet. Auf ganz besondere Weise hat sich Madame Guyon diesem Problem gewidmet, nämlich indem sie ihm aus dem Wege ging. Des Menschen innerer Zustand (Zeitpunktbetrachtung) macht sie zum Ausgangspunkt für jedwede geistigen Akte, damit auch für nackte Denkinhalte. Sie hat damit das Bewusstsein schon sehr früh als einen Mechanismus betrachtet, der die Aufmerksamkeit lenkt. Für sie war nicht die Frage der Einheit von Körper und Geist relevant oder eine mögliche Trennung, für sie war entscheidend, sich auf bestimmte geistige Zustände zu konzentrieren, sie rückt damit die augenblickliche Befindlichkeit des Menschen hervor. Der Augenblick, die Gegenwart ist das Zentrum der Aufmerksamkeit, damit der Ausgangspunkt einer jeden menschlichen Operation. Diesen Auslegungen entsprechend war Madame Guyon so auch gegen die philosophischen Betrachtungsmöglichkeiten des Rationalismus wie auch des Materialismus.
Es gibt eine briefliche Überlieferung von ihr, in der sie sagt: „Ich gestehe, dass ich Descartes überhaupt nicht liebe und auch nicht das System von Malebranche.“
Der Rationalismus (Vernunft) hebt das rationale Denken hervor (Descartes). Andere Erkenntnisquellen wie etwa die Sinneserfahrung (Empirie) werden abgewertet. Somit wird natürlich auch die Möglichkeit „religiöser Offenbarungen“ negativ bewertet. Damit wird klar, dass eine derartige philosophische Strömung für Madame Guyon nicht in Frage kommt.
Der Materialismus sieht alles Wirkliche als ein Produkt von Materie. Damit werden die Existenz einer nicht materiellen Natur und damit die Existenz eines Gottes ausgelagert bzw. abgestritten.
Die philosophische Position des Okkasionalismus und damit Malebranche hat das Leib-Seele-Problem dadurch zu lösen versucht, indem sie eine psycho-physische Wechselwirkung abgelehnt und dafür einen Gott eingesetzt hat. Die Zuordnung von physischen und psychischen Prozessen sowie auch die Kausalbeziehung zwischen Dingen wird durch den Eingriff Gottes erklärt, der alle Dinge schafft und erhellt, wobei er sich ihrer als Anlass (occasio) eines gesetzmäßigen Wirkens bestimmt.
Madame Guyon sieht offensichtlich vorgenannte philosophische Strömungen als eine nicht zulässige Reduktion des Menschen, aber auch der Dinge um ihn herum an, und hat ihre eigene Sichtweise entwickelt, die sie zum Teil auch in Verruf gebracht hat.
Madame Guyon wurde am 13.04.1648 geboren und verstarb 1717. Ihre Kindheit war geprägt von Aufenthalten in diversen Klöstern. Über eine körperliche Erkrankung fand sie den Weg zur Bibel. Trotzdem verlief ihre Entwicklung primär an der Weltlichkeit orientiert. Mit 16 Jahren heiratete sie und wurde fünfmal Mutter. Zwei ihrer Kinder verstarben sehr früh, ebenso ihr Ehemann. Bereits mit 28 Jahren wurde Madame Guyon Witwe. Erst danach wurde sie in Frankreich eine anerkannte Mystikerin, die aber ihr geistiges Fundament überwiegend aus dem katholischen Glauben bezogen hatte. Über die Figur des Fenelon wurde sie mit dem Quietismus in Verbindung gebracht. Dies führte zu verschiedenen Inhaftierungen, nicht zuletzt in der Bastille in Paris. Im Hause Ludwig XIV. war sie zeitweise anerkannt, ebenso hoch angesehen in der übrigen Gesellschaft. Befreundet war sie auch mit der Mätresse des Königs, Madame de Maintenon. Zur Autorin diverser Schriften wurde sie, weil sie sich von Gott dazu berufen fühlte. Zunächst war hierzu eine tiefe innere Überwindung erforderlich. In ihren Visionen lebte sie die Überzeugung, von Gott in dieser Welt eingesetzt zu sein, um den Menschen die Liebe Gottes zu vermitteln und vorzuleben.
Damit man Madame Guyon als Person versteht, ist es wichtig, sie primär als Mystikerin zu betrachten. In der Mystik wird der Begriff Geist mit verschiedenen Bedeutungen aufgefasst. Man unterscheidet den „menschlichen Geist“ als Bewusstsein, Verstand, aber auch Vernunft. Zum Menschsein gehört ebenfalls der Seelenbegriff und ihre Tätigkeit. Zum anderen spricht man in der Mystik vom „göttlichen Geist“ bzw. vom „absoluten Geist“. Dieser Geist impliziert Gott als Form. Dadurch wird er erlaubt personifiziert. Zur Schulung des menschlichen Geistes gibt es verschiedene Methoden. Dazu gehören das liturgische Gebet, die Lesung von Schriften und die Betrachtung von Dingen als Gegenstand einer Meditation. Besonders wichtig auch für den Aspekt therapeutischer Relevanz ist die „gegenstandsfreie Anschauung“, die sog. Kontemplation. Die Beherrschung und Kontrolle der menschlichen Geistestätigkeit führt im Grundverständnis von Madame Guyon zur Erfahrung des göttlichen Geistes. Die Körperlichkeit des Menschen ist Teil dieses göttlichen Geistes.
Zu den Begebenheiten, die Madame Guyon in Verruf gebracht haben, gehört die Tatsache, dass sie offensichtlich persönliche Interessen und Ansichten sehr stark in ihre Lehre und Aussagen integriert hat. Manche hatten sie schon mit Hexerei in Verbindung gebracht. Für mein Anliegen ist über die Person interessant zu betrachten, inwiefern sie Gott als gelebte Liebe lebt, oder ob sie wesentliche Merkmale des Glaubens in ihre Person integriert hat und als Lebensform ihrem Gott lediglich widmet. Hieraus ergibt sich im Vorfeld schon ein Teil einer Sichtweise, die mit therapeutischen Zielsetzungen zu tun hat, besonders eben im Suchtbereich. Abgeleitet werden kann die Frage, ob der abstinent lebende Abhängige seinen Lebensweg der Abstinenz widmet, ob eine Widmung erforderlich ist, die Abstinenz aufrecht erhält, und ob es Lösungen geben kann, die derartige Bedingungen nicht erforderlich machen.
Nach einem ersten Einstieg bietet sich an, eine kurze Auszeit zu nehmen, und sich mit einigen wichtigen Kriterien auch persönlich auseinanderzusetzen. Grundlage dazu sollte ein Beispiel aus dem bisherigen Text sein, nämlich der wichtige Aspekt der Widmung.
Das Buch „Die geistlichen Ströme“ beschreibt den von Madame entwickelten Weg einer Heimkehr zu Gott. Ihre Ansicht, die dortigen Erkenntnisse könnten auch therapeutische Relevanz haben, setzt eine Übertragung des Glaubensweges in einen therapeutischen Weg, der einen Veränderungsprozess zum Inhalt haben muss, voraus.
Tiefe Gläubigkeit oder Frömmigkeit wie bei Madame Guyon setzen einen direkten Bezug zum Wort Gottes voraus. Das Wort Gottes ist eine eigenständige sprachliche Kategorie, die in sich abgeschlossen ist. Genau dies trifft auch auf den Begriff und den Bereich der Widmung zu. Das Wort Gottes beinhaltet die in den Testamenten niedergelegte göttliche Offenbarung, die sowohl das von Gott empfangene als auch das in seinem Auftrag von Menschen weitergegebene Wort darstellt. Dazu gehören die „10 Gebote“, aber auch im Neuen Testament die Figur des Jesus Christus selbst. Jesus ist auch das Wort Gottes, durch das Gott sich den Menschen offenbart. Der Wortgottesdienst ist dem Grunde nach ein Dienst am Wort Gottes.
Sowohl sprachlich wie auch vom Vorgang her betrachtet ist die Wirkung eine selbständige für sich stehende Kategorie, die ihren besonderen Wert in der psychologischen Anteilnahme erhält. Die wichtige Verselbständigung, die hier angezeigt wird, wird später relevant für das bessere Verständnis der Wegbeschreibung, die Madame Guyon definiert hat.
Ein wichtiges Kriterium für das augenblickliche Verständnis ist die Kontemplation. Hierunter versteht man eine beschauliche Betrachtung geistiger Dinge bzw. Akte. Kontemplation ist auch als mystischer Weg in unserer westlichen Tradition bekannt. In aller Regel werden durch eine kontemplative Lebensführung oder Handeln für den Augenblick ein besonderer Empfindungszustand oder auch eine Bewusstseinserweiterung angestrebt. Ruhe und Aufmerksamkeit sind tragende Säulen dieses erstrebenswerten Zustandes (Meditation). Beim „kontemplari“ geht es um die Vereinigung himmlischer und irdischer Bereiche. Unter Ausschaltung individueller Willensaktivitäten werden Intuition freigesetzt, Visionen erreicht und vor allem Anschauungen trainiert. In einer streng religiösen Auffassung erfolgt eine Versenkung in Gott oder göttliche Akte. Für den gut Trainierten wird dies erreichbar sein. Der kontemplative Gläubige übt sich darin, auf Gott zu lauschen. Ziel der Kontemplation ist es, sich für Gottes Geist zu öffnen. Bekannt ist ein 3-Schritte-Weg, der den Einzelnen hinführen kann:
In der hier im Westen bekannten Kontemplation besteht eine Verwandtschaft zu fernöstlichen Meditationspraktiken. Kontemplation ist ein Einlassen auf einen bedingungslos liebenden Gott. Gelingt die Sendung mit Gott wird dies vom Gläubigen als besondere Gnade aufgefasst.
Ausblick: die Beziehung zu Selbstheilungskriterien, Introspektion und Selbstschutzsystem.
Voraussetzung, um die Kontemplation oder eine entsprechende kontemplative Lebensführung zu verstehen, ist, dass der Mensch sich auf sich selbst einlassen kann. Damit dies gelingt, sollte jeder in der Lage sein, offen und ehrlich mit sich selbst umzugehen. Durch die Methode der Selbstbeobachtung (Introspektion) kann der einzelne seine Fähigkeiten dazu austrainieren. Diese phänomenologische Methode ist eine Erlebnisbeschreibung, in der man seine eigenen Gedanken und Gefühle betrachtet, vor allem während spezifischer Sinnesempfindungen (Aufmerksamkeitsprozesse). Wie keine andere Methode erschließt die Introspektion den Umfang, die Subtilität und die Eigenheit unserer Wahrnehmung. Die zugrunde liegende Subjektivität wird allgemein als ein Nachteil betrachtet, weil die Richtigkeit der privaten Erkenntnisgewinnung durch andere nicht kontrollierbar wird. Im Alltag spielt jedoch dieses Fehlen von Kontrolle keine Rolle, denn der Einzelne macht in dem Bereich das ,was er macht letztlich für sich selbst. Unterstellt wird hier lediglich eine ernst zu nehmende Veränderungsabsicht. Ansonsten passiert hier der berühmte Selbstbetrug, den jeder kennt. Die positive Absicht des Vorgangs unterstellt, gelingt aber mit der nötigen Offenheit, dass jeder einen Bezug zu sich selbst herstellen kann, indem er einen Zugang zu seinen eigenen Gedanken und Gefühlen entdeckt und bereit für eine gegebenenfalls nötige Auseinandersetzung ist.
In Madame Guyons geistiger Welt spielen das Bewusstsein und die Bewusstheit eine entscheidende Rolle. Sie geht von einem inneren Zustand aus, der über die Beschreibung von persönlichen Empfindungen entschlüsselt wird. Sie muss dabei sehr früh erkannt haben, dass dieser innere Zustand später als Summe der Empfindungen nicht weiter aufgegliedert werden kann. Jede Empfindung im Menschen ist ein mentales Element. Ich mache mich selbst meinen eigenen Empfindungen zugänglich, indem ich ihre Attribute erkenne, definiere und akzeptiere. Ein Attribut einer Empfindung ist ein bestimmter Aspekt oder eine Eigenschaft oder auch eine mögliche Dimension der sog. Empfindung. Damit blüht eine Empfindung durch ihr Attribut. Fällt dies weg, verschwindet auch die Empfindung.
Eigentlich sollte man annehmen, dass wir Menschen jederzeit leicht mit unseren Empfindungen leben können und diese so auch die Basis für unser Verhalten bilden. Dem ist wohl nicht so. Besonders der Aspekt der Intensität bereitet im Alltag große Schwierigkeiten. Wir verfälschen regelmäßig unser Denken und Fühlen, unsere Außendarstellung insgesamt, indem wir regelmäßig unseren inneren Zustand manipulieren. Meist geschieht das unbewusst. In diesem Grundverständnis gibt es also keinen „reinen“ Denk-oder Geistesakt, der auf einer Verhaltensebene eine Rolle spielt. In kleinen Schritten entfernen wir uns von dem, was uns ausmacht. Nach Madame Guyon verlieren wir in einem religiösen Grundverständnis die eigene Mitte.
Unsere biologische Natur sorgt durch ein funktionierendes Immunsystem dafür, dass wir vor Feinden aus der Umwelt bestmöglich geschützt sind. Fällt dieser Schutz aus, haben wir ein hohes Risiko, zu erkranken. Erstaunlicherweise ist unser eigener Körper auch aus sich selbst heraus in der Lage, sich gegen uns als Person zu richten. Zu unserem eigenen Schutz sind wir auch hier auf ein perfekt funktionierendes Abwehrsystem angewiesen.
Auch auf einer psychischen Ebene machen wir regelmäßig Gebrauch von diversen Aktivitäten, um uns zu schützen. Auf einer Denkebene treffen wir regelmäßig rationale Entscheidungen, z. B. um Gefahren ausweichen zu können, wenn welche erkannt worden sind. Auf einer unbewussten Ebene haben wir alle Abwehrmechanismen entwickelt, von denen wir bei Bedarf Gebrauch machen. Oft benötigen wir sie nur, um unsere Befindlichkeit aufrecht zu erhalten bzw. sie zu regulieren.
Für die zu bearbeitende Lektüre spielt der von Madame Guyon eingeführte Begriff der Natur auch hier eine wichtige Rolle. Aus der Natur des Menschen stellt sie den Bezug zu Gott wie selbstverständlich her, aber auch unsere Psyche selbst hat einen direkten Draht zur Natur. Was wir nicht wissen ist, wie dieser sich gestaltet. Auch heute noch wissen wir eigentlich so gut wie nichts über die „reale Natur der Psyche“. Was immer man über sie sagt, fest steht: sie wird sich nie selbst übersteigern können. Alles Begreifen und alles Verstandene ist an sich psychisch. Insofern sind wir in einer ausschließlich psychischen Welt hoffnungslos eingeschlossen (Determination).
Allgemein kann man sagen, dass über die Psyche unsere Auseinandersetzung mit der Welt ermöglicht wird. Dazu benötigen wir die Denkleistung, wir fühlen und empfinden, und wir haben die Möglichkeit, als Mensch unsere Intuition einzusetzen, und dadurch dann die Welt zu erfassen zu versuchen.
Der Empfindungsvorgang stellt im Wesentlichen das fest, was ist. Das Denken bestimmt, was es bedeutet. Unsere Gefühle legen den Wert fest. Und über Intuition entwickeln wir Ahnungen und vermuten Inhalte über das Woher und Wohin. Fehlt noch der Glaube. Aber auch er ist Teil unseres Selbstschutzes auf einer psychischen Ebene.
Bekanntermaßen ist Sigmund Freud der Akteur, der die Abwehrmechanismen entwickelt hat, und damit unserem Selbstschutzsystem eine Struktur gegeben hat. Abwehrmechanismen werden dann aktiv, wenn wir aus analytischer Sicht in Konflikte mit unserer Umwelt geraten und hierzu Lösungen entwickeln müssen. Auch der von Alfred Adler hervorgehobene Mechanismus der Kompensation dient letztendlich dieser Zweckbestimmung. Vielfältige Abwehrmechanismen benötigen wir also regelmäßig zum Überleben. Beispielhaft soll hier die Verdrängung erwähnt werden: sie ist in Wirklichkeit der Preis für unsere optimal ausgebildete Fähigkeit zur Einsicht und zur Erkenntnis von Zusammenhängen. Diese Fähigkeiten entwickeln wir notwendigerweise aus unserer Sozialisation heraus. Damit wird dann auch unser „seelischer Apparat“ schutzbedürftig.
Vielleicht ist es einigen gelungen, in sich hineinzuhorchen, um sich einmal in einem persönlichen Standpunkt zu religiösen Dingen näher zu betrachten. So lässt sich im weiteren mit den Inhalten, vor allen Dingen denen der Lektüre, besser umgehen.
Um sich dem seelischen Apparat zuzuwenden, ist es sinnvoll, den Glaubensweg von Madame Guyon etwas näher zu betrachten. Wie bereits erwähnt, ist sie eine Mystikerin, die in diesem Geschehen eine Entwicklung durchgemacht hat. Auf dem Fundament der heiligen Schrift hat sie mystisches Gedankengut aufgenommen, verarbeitet und zu ihrer eigenen Lehre weiterentwickelt. Eine wichtige Station ihrer Entwicklung war die Figur des Augustinus. Seine Gedanken in sich zu vereinnahmen hat wohl das Nachfolgende bedeutet:
Gegenüber dem Verstandesdenken erfolgt eine Höherbewertung des Willens und der Liebe als Instrument. Der Intellektualismus wird somit in der Mystik von Augustinus herabgestuft. Nach Augustinus Ansichten können Wahrheiten auf Ideen des Geistes Gottes basieren (dies können auch sog. Spontanremissionen sein). Wie selbstverständlich wird damit das Merkmal der Erleuchtung zu einem normalen Werkzeug. Der Seele wird sowohl bei Augustinus wie auch bei Madame eine hohe Eigenständigkeit in ihrer Wirkweise zugesprochen. Sie ist eine fundamental bedeutsame Instanz, die das Wesen des Menschen prägt. Besondere Aufmerksamkeit erregte Augustinus aber auch durch philosophisch bedeutsame einfache Aussagen, wie z. B. „Nicht zweifeln lässt sich am eigenen Leben gewinnen“ (De beata vita 386). Zu einem Leitspruch seiner Erkenntnislehre wurde der Satz: „Glaube, um zu erkennen, erkenne, um zu glauben.“ Die Seele des Menschen ist durch göttliche Erleuchtung, Illumination, zur Erkenntnis befähigt, und von der Erleuchtung in der Weise abhängig, wie das Auge vom Licht. Durch Liebe kann alle weltliche Begehrlichkeit überwunden werden. Nach Madame Guyon ist die Aufgabe des Menschen, seine Kräfte auf Gott zu beziehen. Das innere Gebet hilft dabei.
Der „seelische Apparat“ ist ein Begriff, der sehr umfassend zu verstehen ist. Er enthält das, was wir gemeinhin unter Seele verstehen, stellt aber auch gleichzeitig einen Bezug zu Gott her, im Christentum zum christlichen Gott. Der „seelische Apparat“ ist die Brücke zu unserem Geistesleben bzw. Geistessystem. In der Mystik spricht man von menschlichem Geist, der die Seelentätigkeit impliziert, zusätzlich aber auch vom göttlichen Geist. Der vom Mensch zu bearbeitende Teil ist die menschliche Seite des Geistes. Idealerweise wird der göttliche Teil vom Menschen vereinnahmt. Nur so führt er zum Urgrund allen Seins. Ist dieser Zustand erreicht (Madame Guyon), lebt der Mensch perfekt in Gott.
Die Schutzbedürftigkeit der Seele ergibt sich aus dem Kriterium der Selbstorganisation des Menschen. Unter dieser Selbstorganisation versteht man alle Beiträge zur Entstehung von Ordnung und Komplexität aus einem System selbst heraus. Kann man die Selbstorganisation von dynamischen Systemen in der Naturwissenschaft wissenschaftlich belegen, gehört sie in das System Mensch verantwortungsvoll unterstellt. In Teilen oder als Subsystem ist aber auch hier wissenschaftliche Evidenz schon heute möglich. Der wichtige Aspekt der Selbstorganisation unter Berücksichtigung des Seelischen und des psychischen Apparates spielt später eine wichtige Rolle für die Darstellung von A. Banduras System der Selbstwirksamkeit (Übertragung in einen therapeutischen Veränderungsprozess: Self efficacy).
Über die Historie hinweg hat es verschiedene Vorstellungen zur Seele gegeben. Maßgebend für deren Entstehung war das Erlebnis der Einheit der eigenen Person, des eigenen Ichs. Auf das Engste verknüpft ist dieses Merkmal mit der Belebtheit des eigenen Körpers. In der Vergangenheit waren auch gesellschaftliche Motive ausschlaggebend, wie z. B. die Bindung an die Toten. Körperelemente wie Atem, Blut oder auch das Herz werden in Verbindung mit unserer Seele gebracht, aber auch gebraucht. Aristoteles hat die Seele als ein nicht stoffliches Prinzip definiert. Die Vitalseele, die empfindende Seele, die Geistseele als bewegende Seele sind Säulen seiner Naturlehre.
Erkennt man die Seele als belebendes Prinzip im Menschen, erhält man ein Gefühl für die Bedeutung des Instanzenschutzes. Die Seele bildet immerhin den Kern der Persönlichkeit. Madame Guyon nimmt eine Einteilung der Persönlichkeit in ihrer Lehre vor. Letztendlich geht es aber auch bei ihr um die personale Ganzheit. Unser „seelischer Apparat“ ist zuständig für die Einheit in der Fülle miteinander koordinierter Prozesse in uns. Wie sollten wir sonst erklären können, dass menschliches Wahrnehmen, Denken und begleitende Emotionen aufeinander abgestimmt sind. Worauf beruht die Erfahrung des eigenen Ich? Was sind die Quellen von Lebendigkeit, woher kommt überhaupt unsere Energie? Für jede Psychologie ist es daher schwer, die Seele auszulagern.
Damit der Einstieg in die Lektüre optimal gelingt, werden nun noch einige wichtige Kriterien aufgenommen und bisherige sinnvoll ergänzt.
In ihrem religiösen Wirken sieht Madame Guyon sich von Gott eingesetzt als geistliche Mutter für viele Menschen. Neben der Erfahrung ihrer eigenen Mutterschaft ist sie auch in der Lage, sich als Teil ihres mystischen Auftrags in den Stand des Kindes Jesu hineinzuversetzen. In diesem Zustand kann sie diverse Eigenschaften des Kindheitsstatus wie Gehorsam, Unterwürfigkeit, Schutzbedürftigkeit etc. problemlos nachvollziehen. Aus vielerlei Gründen setzt sie sich für die im 17. Jhd. beginnende Kindheit-Jesu-Vereinigung ein.
Im Christentum offenbart sich an Weihnachten die Herrlichkeit des Himmels in der Schwäche eines Kindes. Jesus gesamte Entwicklung ist geprägt von Verfolgung. Seine Rückkehr von der jüdischen Zugehörigkeit macht ihn zum Symbol für wahre Befreiung. Damit sind wir bei der Bedeutung des Symbols im Allgemeinen, aber auch in Bezug auf die Lektüre. Jedes Kind ist nicht einfach ein Kind. Kinder symbolisieren den Neuanfang des Lebens. Kinder erinnern uns an die eigene Kindheit, vor allem aber daran, dass alles Leben und Lebendige immer wieder die Kindform kennt. Über die Welt der Kinder werden wir permanent in allen Gefühlskreationen frisch gehalten.
Um sich mit der Lektüre eingehend zu beschäftigen, braucht man sinnvollerweise einige Grundkenntnisse über die Symbolik. Jede Sprache ist an sich Symbolik. Worte erhalten symbolisch ihre Bedeutung. Im psychologischen Sinne ist ein Symbol jedoch mehr. Es hat Hinweischarakter auf ein inhaltliches Darüberhinaus. Symbole verweisen auf Hintergründiges und stellen Zusammenhänge her. So manches drückt sich besser symbolhaft aus. Der Bedeutungsüberschuss ist das Besondere, auf das es auch in der Lektüre ankommt. So lassen Symbole Hoffnungen aufkeimen und ermöglichen gleichzeitig Erinnerungen zu erleben und Erwartungen aufzubauen. In einem Veränderungsprozess sind Symbole Brennpunkte unserer eigenen Entwicklung. Sie entstehen in Träumen, in Faszinationen und Mythen, aber auch in Symptomen. Symbole sind Bilder, die eine emotionale Bedeutung haben. Im Symbol ist auch eine zukünftige Entwicklungslinie erfasst. Symbole offenbaren etwas und gleichzeitig eröffnen sie uns etwas, z. B. neue Perspektiven des Erlebens und vielleicht auch ein neues Selbstverständnis. All dies bekommen wir allerdings nicht zum Nulltarif, sondern nur dann, wenn wir es verstehen, uns emphatisch auf ein Symbol einzulassen.
Der Psychoanalytiker C. J. Jung verweist in seiner Lehre auf sog. Archetypen als kollektive Symbolik.
Da Symbole entschlüsselt werden müssen, machen uns alle Lebensvorgänge zu einem stetig Suchenden. Planen wir eine Veränderung, kreieren wir eine schöpferische Entwicklung. In der Psychoanalyse geht man davon aus, dass der Psyche die Tendenz innewohnt, sich stetig zu entwickeln, also ständig in Bewegung zu sein. Akzeptiert der Einzelne die Psyche als ein selbstregulierendes System, so wird er erkennen, dass wir ständig bestrebt sind, unbewussten Mechanismen bewusste folgen zu lassen. Damit unterliegen wir einer ständigen Korrektur. Addiert man zu diesem Geschehen die theologisch-seelische Komponente hinzu, können wir von einem seelischen Zustand sprechen und ihn als Medium für Veränderung identifizieren. Ein Zustand, der Bewegung, Flüssigkeit und das Werden verkörpert (transzendente Funktion).
In der Lehre von Jung werden im Symbol die Gegensätze Bewusstsein und Unbewusstes immer wieder überwunden in einem Drittgeschehen, das die Gegensätze auf eine andere Ebene hebt. Dies nennt man das Prinzip des Schöpferischen.
Die Kontemplarität der Vorgänge: in der Lektüre von Madame Guyon geht es sehr stark um die Entschlüsselung von Symbolen und vor allem darum, die Ergebnisse dann in einen größeren Zusammenhang zu stellen.
Kontemplarität meint das Aufeinanderbezogensein von innerpsychischen subjektiven Momenten und von äußerem Verhalten einschließlich körperlicher Vorgänge.
Unter einem Komplex versteht man im Allgemeinen ein aus mehreren miteinander verflochtenen Teilen bestehendes Ganzes, in der Psychologie damit die Verbindung von einer Mehrheit von Sinneseindrücken oder Vorstellungen zu einem Ganzen im Sinne eines durchgehenden Bezugssystems. In der Psychologie Jungs ist ein Komplex ein Bedeutungsträger, der dem bewussten Willen entzogen unbewusst und unlenkbar ist. Komplexe können sich verselbständigen und so im Individuum das Seelengeschehen massiv einseitig beeinflussen. In einem therapeutischen Geschehen sind derartige Verhärtungen kaum aufzulösen. Hohe Mitwirkung und hohes Engagement des Betroffenen und aller Beteiligten sind Grundvoraussetzung. Die allgemeine Bewegung innerhalb psychischer Abläufe, jemand in einmal manifestiertes Verhalten rückzuziehen, bestätigt sich allgemein als verhängnisvoll.
Der Aspekt der Reinigung: in Anlehnung an Aussagen des Katechismus der katholischen Kirche meint man hierzu vordergründig die Reinheit des „Herzens“. Symbolisch betrachtet werden wir durch die Taufe rein. Im Gedankengut Gottes gehören zur Aufrechterhaltung dieser Realität der stetige Kampf gegen ungeordnete Begierden, die Gabe der Keuschheit, die lautere Absicht, der reine Blick sowie die Beherrschung der Gefühle und der Phantasie als Tugend.
Im Gebet erheben wir unsere Seele zu Gott hin. Christliches Beten ist die Beziehung zu Gott aufnehmen als Trinität. Aus dem Schöpferstatus bleibt der Bezug zu Gott jedem Menschen dauerhaft erhalten. Verschieden ausgeprägt ist das Verlangen nach ihm. Über die Reinigung erlangen wir auch die Fähigkeit, auf Gott zu warten bis er uns über das Gebet die Begegnung anbietet = kontemplative Anschauung. Das auch in der Denkweise von Madame Guyon ausdrücklich erwähnte permanente Verlangen wird ihrer Ansicht nach auch über das Gebet befriedigt, damit Erregung abgebaut. Der tiefer Gläubige entwickelt hier schon die Gabe der Freisetzung von Energie, die es zu ordnen gilt.
Es besteht ein direkter Bezug aufeinander. Das AT bereitet das NT vor, das wiederum das AT vollendet. Beide stellen den Heilsplan Gottes dar.
Was bedeutet das Verlangen nach Gott? Religionskritiker sagen, Gott sei eine Erfindung des Menschen. Theologen werden sagen, Gott ist der Erfinder des Verlangens. Im christlichen Grundverständnis wird Gott in diesem Verlangen wachsen. Hierin bindet er die Menschen an sich. Der Mensch ist von Natur aus ein religiöses Wesen, das befähigt ist, zu Gott in Gemeinschaft zu treten. Der Gottesaspekt ist also eine Tendenz im Menschen, die tief verankert ist. So ist auch die Musik ein Element, das als tief verborgene Tendenz im Menschen schlummert und angesprochen werden will. Wir befinden selbst innerhalb der Kultur über die jeweilige Wirksamkeit einer Ansprechbarkeit, dies im sog. Lichte der Vernunft.
Im Allgemeinen versteht man hierunter das plötzliche Erkennen und Erfassen einer bis dahin tief verborgenen Wahrheit. Erleuchtung ist eine existentiell erfahrene Erkenntnis (Geistesblitz). Intuition ist ein ähnlicher Vorgang. In der Mystik ist Erleuchtung die zweite (mittlere) Stufe des mystischen Weges zur Gotteserkenntnis. War im AT Gott selbst das Licht, wird Jesus im NT das neue Licht der Welt. Im christlichen Glauben und der damit verbundenen Tradition ist Erleuchtung Inhalt, während z. B. im Buddhismus Erleuchtung als Leere angestrebt wird.
Im Wissenschaftsbetrieb des 17. Jahrhunderts gab es damals eine aufsehenerregende Tendenz, nämlich die Aufnahme von Erkenntnissen der mechanischen Wissenschaften in naturwissenschaftliche Disziplinen, wie z. B. die Biologie oder die Medizin. Aufsehenerregende Entdeckungen über das menschliche Funktionieren beeinflussten zunehmend auch ein entsprechendes Menschenbild. Der Blutkreislauf wurde entdeckt, die roten Blutkörperchen, der umgekehrte Abbildabdruck beim menschlichen Sehen oder auch die Tatsache, dass das Herz ein Muskel ist und die Aktivitäten entsprechender Muskelkontraktionen. Was folgte, war eine mechanische Interpretation der organischen Körpervorgänge.
Die Denkweise von Descartes verbreitete sich rasch. Der Mensch wurde ein technischer Mechanismus. Das Tier wurde als Maschine betrachtet, damit also als seelenlos. Ein gravierender Einbruch in die bis dahin gültige Sichtweise, die sich auf Aristoteles und die Scholastik bezog. Demnach gab es drei Seelenformen, die vegetative Pflanzenseele, die sensitive Tierseele und die rationale Menschenseele. Der Mensch wurde ein höherwertiges Wesen, jedoch nicht bei allen. Für Zweifel sorgte immer wieder die Erkenntnis, dass Tiere z. B. in der Befriedigung der Lebensbedürfnisse dem Menschen überlegen sind. Weiterhin waren sie überlegen beim Nestbau und vor allem beim Ordnen ihres Gemeinschaftslebens. All dies wurde möglich ohne erkennbare Verständigungsform. Descartes blieb bei seinen Ansichten und hob weiterhin die Denkleistung, die nur dem Menschen zugänglich war, hervor. Verständlich daher die Einstellung der Kirche, die in ihm jemanden sah, der letztendlich auch dem Menschen die Seele rauben wollte. Descartes Lehre blieb starr und hob die mechanischen Vorgänge im Menschen hervor. So sah er z. B. durch Einwirkung gewisser Säfte und Flüssigkeiten den Verdauungsvorgang. Durch Hitzeerzeugung geriet seiner Ansicht nach das Blut in Bewegung, transportiert durch den Organismus durch einen mechanischen Ausdehnungsvorgang. Den Mechanismus der Zirbeldrüse nutzt er zu weiteren Erklärungsansätzen, dem Grunde nach für alle Bewegungs- und Erkenntnisvorgänge im Nervensystem und Gehirn. Descartes begründete den Leib-Seele-Dualismus und machte damit die Seele unsterblich. Trotz mancher erheblicher Zweifel an der Lehre von Descartes wurde es schwierig, die Ansichten aufzugeben. Weil vieles unverständlich blieb, wurde der sog. okkasionalistische Weg eingeschlagen, der aber auch nicht alle zufrieden stellen sollte (Gott als Mittler). So entstand eine Tendenz zur monistischen Lösung.
Der Monismus sieht im Gegensatz zum Dualismus oder auch Pluralismus die Vielheit der Dinge in der Welt als rückführbar auf ein einheitliches Grundprinzip.
In enger Verwandtschaft dazu steht im religiösen Grundverständnis der Monotheismus. Wie bereits erwähnt sieht der Monismus alle Weltwirklichkeit von einem einzigen Prinzip ausgehend. So geht der Monotheismus vom Glauben an die absolute Geltung des einen personalen Gottes aus, der der Welt als der andere gegenüber steht. Gott ist hier der alleinige Initiator aller Dinge.
Die Konstruktion von Geist und Bewusstsein entzieht sich derartigen Problemfragen und –stellungen. Der Naturbegriff erhält erhebliche Bedeutung, weil in ihm dem Grunde nach alles aufgenommen werden kann, vor allem auch neue Erklärungsmuster. In christlicher Tradition bleibt Gott die Ursache von allem. Das menschliche Sein, die Frage nach Gott oder nach einem Urprinzip geht unter in das unveränderliche, unbewegliche, alles umfassende Eine. Orientiert man sich an Aristoteles ist Gott der unbewegte Beweger, bei Platon der Schöpfer, und zwar der Schöpfer alles Guten. Der Grund allen Seins ist das Göttliche.
In ihrer Lektüre schlägt Madame Guyon drei unterschiedliche Wege oder Möglichkeiten vor, die jemanden, der vom Glauben abgekommen ist, wieder an Gott heranführen können. Über die verschiedenen Wege werden unterschiedliche Persönlichkeiten definiert. In der angestrebten Übertragung des Glaubensweges in einen Weg der psychologischen Veränderung (Heilsweg) bedeutet das, dass für die verschiedenen Charaktere der angestrebte Heilungsprozess unterschiedlich in Gang zu bringen ist entsprechend der jeweiligen Zuordnung. Der Gläubige wird den Weg zu Gott zurückfinden, der Kranke wird gesunden und sein künftiges Leben in Zufriedenheit führen können.
Ihre Vorschläge stellt Madame Guyon in ein Bild der Flüsse (Symbolik). Die verschiedenen Kräfte, die der jeweilige Fluss entfaltet, drücken die vorhandene Energie und Kraft aus, mit der der Einzelne sich reinigt und damit einen Bezug zu sich selbst (seine Mitte) möglich macht. Weiterhin geht sie in ihren Ausführungen darauf ein, wie jemand sich neu definiert und vor allem auch akzeptieren sollte. Dadurch erfolgt eine Adaption in ein neues oder neu zu akzeptierendes Umfeld.
Gelingt dieser Prozess, hat nach Madame Guyon der Mensch Aussicht darauf, den Weg zurück zum Meer, dem Grund allen Ursprungs (Gott – Selbst-Natur) gefunden. Der Gläubige lebt nun in Gott, der Kranke ist geheilt, der sich selbst Zerstörende hat sich von diesem Weg erfolgreich abgebracht, rundum betrachtet also ein Heilsweg.
Die nachfolgende Perspektive der Betrachtung lehnt sich an Ernst Kretschmers Lehre über die Charaktere und Temperamente an. Berücksichtigt man dazu auch die Lehre Jungs als analytische Psychologie, gelingt eine kompakte Erkenntnisgewinnung der von ihr definierten Persönlichkeitsstruktur.
Um die Lektüre in der erwähnten Absicht darstellen zu können, wird die Beziehung der Person zu sich selbst in einer sensitiven Struktur betrachtet. Maßgebend ist der jeweilige Bewusstseinszustand. Hierbei kommt es darauf an zu erkennen, wie der jeweilige Typus den Bezug zu sich selbst herstellt und aufrechterhält, in der Alltagssprache: wie jemand mit sich selbst umgeht.
Im Detail:
Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen den Personen ergibt sich aus der Betrachtung folgender Kriterien:
Empfindsamkeit - Unempfindlichkeit (Immunität)
Stärke - Schwäche
Festhalten an Verhaltensweisen - Loslassen von Verhalten
Nach außen zentriert - nach innen gewandt (intensiv sensitiv, nach Möglichkeit kumulierend betrachtet).
Verschiedene Menschen entwickeln unterschiedliche Möglichkeiten, ihren Lebensweg zu gestalten, Veränderungen
herbeizuführen, den Weg zu Gott zu finden usw. Madame Guyon kennzeichnet drei Typen mit den entsprechenden Wegen, sich Gott zu erschließen oder im Übertrag auf einen therapeutischen Prozess für
Heilung zu sorgen.
Menschen, die den Persönlichkeitstypus 1 verkörpern, haben gesichert einen Bezug zu ihrem Glauben und damit zu Gott hergestellt. Sie versuchen, sich an Glaubensregeln zu halten und orientieren ihren Umgang mit anderen bereitwillig an dem Kriterium der christlichen Nächstenliebe. Menschen dieses Typus versuchen bestmöglich, Sünden zu vermeiden.
„Sie arbeiten mit kleiner Kraft.“ Das bedeutet, in der Tiefe des Erlebens sind sie nicht ansprechbar. So konstruierte Personen leben an der Oberfläche. „Jede Dürre lässt sie austrocken“ – sie zweifeln, sind unsicher im Glauben und es gibt Zeiten, in denen die gläubige Lebensform nicht zum Zuge kommt. Menschen dieser Art finden trotzdem regelmäßig den Weg zurück zum Glauben.
„Diese Flüsse tragen wenige Güter oder keine“ – die Übernahme von Verantwortung gehört allgemein nicht zur Integrität dieses Personenkreises. Vereint mit anderen ist eine grundsätzliche Bereitschaft da, aber im Grundverständnis von Madame Guyon bescheiden wenig. Solche Menschen verwenden ihre Energie nach außen. Sie leben zentriert auf ihre Umwelt, praktizieren eine übertriebene Anpassung. Sie möchten jederzeit positiv auffallen und auch so gewertet werden, beanspruchen damit sogar eine Art Sonderstellung. Den Weg ins Meer, d. h. zu Gott zu finden im wahrhaften Sinn ist diesen Leuten nicht möglich, aber sie sind bemüht.
„Ihre Neigung, zu vernünfteln“ – d. h. das Rationale in den Vordergrund zu stellen, führt nicht zu der erstrebenswerten Intensität, die Madame Guyon für jeden erreichen will. Solche Menschen gehen selten aus sich heraus. Sie benötigen ständig Argumente für das, was sie tun oder unterlassen. Dieser Typus unterliegt großen persönlichen Unsicherheiten und damit auch entsprechenden Stimmungsschwankungen. In solchen Abschnitten suchen sie zwar aktiv das Gebet, aber es ist ein Willensakt, der Kraft und Energie verbraucht und so dafür sorgen kann, dass Gott ggfls. in Frage gestellt wird (Auflage von 1978, ISBN: 9783875981476, S. 12).
Zu Beginn von Seite 13 spricht Madame Guyon das Gewissen an. Sie bedauert, dass es Menschen gibt, die eine tiefe Gläubigkeit oder allgemein eine Tiefe in der Erlebensform persönlich nicht erfahren können, und dem Grunde nach genötigt sind, permanent über den Verstand Lösungen zu suchen, die natürlich ihren christlichen Gott auf Distanz halten. Auf den Seiten 13 und 14 verweist Madame Guyon auf die Bedeutung, die ein Seelsorger als Mentor haben kann, wenn er eingesetzt wird. Der Aspekt der Liebe rückt in den Vordergrund ihrer Betrachtung. Diese kommt in folgenden Formen zum Ausdruck: als Eigenliebe, Nächstenliebe und vor allem bedeutsam als Menschenliebe. Es ist ihr Ideal, in die Tiefe der Liebe zu Gott einzutauchen und von diesem inneren Zustand ausgehend den Weg des Natürlichen zu suchen durch absolute Vergeistigung = Transzendenz.
Hierzu bedarf es mehr als nur Verstand und Intellekt. Die mystische Sichtweise der Dinge kritisiert vehement diese Form einer Ansprechbarkeit im Hinblick auf die Gottesstellung Wille und Liebe ist das Instrumentarium, das sie für ihre Aufgabenstellung benötigen. S. 15 betont die Missbrauchsmöglichkeit, die dem Gebot der Nächstenliebe innewohnt. Sie kann in Eigenliebe verwandelt und missbraucht werden und verhilft damit einer tiefen Gläubigkeit zu ihrem Selbstzweck. In ähnlicher Weise verhält es sich mit einer klugen Wissensaneignung in Sachen Glauben. Nach Madame Guyon werden Menschen so vom Glauben abgehalten, statt nach einer anderen Lösung zu streben, in deren Konsequenz sie sich auf den Glauben einlassen können.
Im unteren Abschnitt der S. 15 verweist Madame nochmal ausdrücklich auf die Bedeutung des inneren Zustandes hin. Dieser bildet die Grundlage für alles Denken, Handeln und Erleben. Das Wahrhafte und Aufrichtige kommt aus der Tiefe des Seelengeschehens, es ist das, worauf es ankommt. Die Tugenden des Einzelnen entspringen meist seiner rationalen Denkweise. Auf S. 16 hebt sie nochmals die Bedeutung des Geistlichen als Wegbegleiter für den Gläubigen hervor. Madame Guyon erkennt das Problem der Zwiespaltung zwischen den eigenen Gefühlen und den Ansprüchen, die jemand stellt, um sich selbst zu genügen. Meist tendiert der Typus dahin, ein akzeptables Bild für die Außenwelt abzugeben, ein unterschwellig permanent ablaufender Konflikt, der eigentlich einer bestmöglichen Verarbeitung bedarf. Auf S. 17 offenbart sich der Aspekt der Demut, erlernbar über das regelmäßige Gebet (Psalm 103). Hierin erfolgt ihrer Auffassung nach ein Rückzug auf sich selbst. Weiterhin wird eine direkte Verbindung zu Gott hergestellt (innerer Dialog), die intimste aller denkbaren Situationen. Ihrer Auffassung nach sind lange Zeiten der Übung regelmäßig notwendig, um das Gebet für jeden als Meditation wirksam werden zu lassen, letztendlich also auch eine Chance für jeden Verstandesmenschen, ein brauchbares Bündnis mit Gott einzugehen.
Madame Guyon beschreibt und kennzeichnet über den aktiven Lichtweg einen Charakter, der ständig präsent ist Eindrücke aus der Umwelt aufzunehmen. Hierbei handelt es sich um jemanden, der sich laufend angesprochen fühlt und meint, ebenso oft reagieren zu müssen. Es ist ein Akt von Selbstdisziplin, dies als Verpflichtung zu sehen, um sich damit in den Mittelpunkt der jeweiligen Umweltsituation zu rücken. Eingehende Reize als Überflutung zu erleben, bietet auf einer rationalen Ebene reichlich Argumentationsmöglichkeiten. Der ständige Gebrauch davon gehört zum Selbstverständnis des beschriebenen Typus.
Die Verarbeitung von Erlebnissen geschieht nahezu perfekt an der Oberfläche. Nur hier ist Platz dafür, die stetig einströmende hohe Quantität auch entsprechend abzuhandeln. Auf dieser Ebene wird auch das vorhandene Selbstschutzsystem der betroffenen Person regelmäßig aktiviert und damit einer ständigen Bearbeitung unterworfen. Meist geschieht dies auf einer argumentativen Ebene. Jeder kennt solche Leute, die sich z. B. ständig angegriffen, überfordert oder überlastet fühlen. Die sensible Ansprechbarkeit auf diesem Niveau verhindert erfolgreich den Blick in die Tiefe. Der ebenfalls hohe Energieverbrauch leistet ein Übriges. Zwangsläufig muss jemand, der so ausgerichtet ist, gefühlsmäßig versauern und vor allem unterschwellig Aggressionen aufbauen. Im Alltag des Betroffenen wird sich dies auch innerhalb der Gewissensbildung bemerkbar machen. Das schlechte Gewissen wird zur treibenden Kraft, die so aufgebauten Dissonanzen müssen ständig bearbeitet werden. Hier schließt sich für jemanden ein nachteilig gestalteter Kreislauf von selbst. Alltagsaktivitäten, wie die Übernahme von Verantwortung oder auch die Hilfsbereitschaft gegenüber anderen fallen weg. Die Bereitschaft, sich unter sonst günstigen Bedingungen mit anderen zu verbünden, ist das, was übrig bleibt. Aus gewohnheitsmäßigem Verhalten entwickelt sich so nach gewisser Zeit eine Eigendynamik, aus der sich Betroffene meist nicht mehr selbständig herausbewegen können, unabhängig davon, ob der nötige Wille vorhanden ist. Ein vorhandenes Umfeld trägt meist auch durch Anpassung oder Rückzug zur Aufrechterhaltung des Geschilderten bei. Nur durch krasse Ereignisse kann eine Abkehr erfolgen.
Aufgabenerfüllung ist Außendarstellung. Madame Guyons Typus verfügt sehr oft über einen hohen Intellekt und damit eröffnen sich dann zahlreiche Möglichkeiten, umweltbezogen zu reagieren und seinen sozialen Status zu wahren. Ein wichtiger Aspekt, der in der Person viel Kraft und Energie bindet, und zielgerichtet eingesetzt wird. Verstandesmäßige Lösungen stehen mit Abstand im Vordergrund und führen natürlich in unserer rational orientierten Welt regelmäßig zu Belohnungseffekten, z. B. durch hohes Ansehen. Tief verschlossen bleibt z. B. der Blick für eine selbst auferlegte Aufgabenerfüllung. Hier kennt jemand bescheiden wenig Selbstmotivation, agiert fremdgesteuert und erlebt dies als private Normalität. Wie bereits erwähnt ist die Übernahme von Verantwortung meist nur im Verbund mit anderen möglich. Die Bereitschaft, Verantwortung zu tragen, ist sehr oft mit dem abschreckenden Merkmal der Schuldübernahme verbunden, die von der Umwelt bei Bedarf eingefordert werden kann. Unser Typus wird kaum in der Lage sein, Schuldzuweisungen zu verkraften, und über Einsichtskriterien Verhalten zu ändern. Nach außen orientierte Menschen organisieren sich sehr gern so, dass bestehende Verhaltensweisen unantastbar bleiben.
Was prägt sein Handeln? Neben dem inneren Zustand, auf den später einzugehen sein wird, schreibt Madame Guyon im Text, dass dieser Typus selbst aktiv wird. Tatsächlich verfügen solche Menschen über einen hohen Aktionsradius. Nicht selten sind sie extrem erfolgsorientiert, erreichen also permanent Gutes, solange sich Erfolg einstellt. Der beschriebene Typus steht besonders gern distanziert im Mittelpunkt. Sein Ansehen wird oft rigoros umsorgt. Unter hohem Energieaufwand werden viele Aktivitäten zur Statuspflege missbraucht. Eine zusammengefasste Wertung orientiert sich primär an einem anzunehmenden inneren Zustand, der richtungsweisend Verhaltensaktivitäten diktiert.
Im Allgemeinen meint man mit dem diffusen Begriff des „inneren Zustands“ (state) ein subjektives, meist bewusst erlebtes Muster von Gefühlen. Es ist weiterhin davon auszugehen, dass unbewusste Vorgänge und auch biochemische Abläufe mit hineinspielen. Der innere Zustand wird für uns spürbar über die Erregung des autonomen Nervensystems und unter Einbezug diverser kognitiver Prozesse, z. B. der Entschlüsselungsvorgang. Die Wirkweise eines „Zustandes“ ist immer vorübergehender Natur. In der Person werden regelmäßig Verhaltensweisen aktiviert, die der Aufrechterhaltung oder der Vermeidung dienen. Erleben wir z. B. eine zu starke Anspannung, drängt unser Organismus wie automatisch dazu, Vorgänge der Spannungsreduktion hervorzurufen. Beispiele für allgemeine einfache innere Zustände:
Besorgt sein, unruhig sein, Zufriedenheit registrieren, euphorisch hoch gestimmt sein, Furcht oder Scheu erleben usw. Sobald wir über ein Zuviel oder Zuwenig unausgeglichen werden, versuchen wir, die richtige Balance herzustellen. Oft wird nur ein Teil dieser Aktivitäten bewusst, vieles läuft automatisch ab. Aus dem aktiven Weg von Madame Guyon, der symbolisch eine Persönlichkeitsstruktur definiert, ergibt sich eine eindeutige Ausrichtung dieses ersten vorgestellten Typus nach dem Grundmuster der Extraversion. Extravertierte leben zentriert auf die Umwelt. Meist sind sie gesellig, können leicht aus sich herausgehen, haben schnell Kontakte, sind immer aktiv und präsent, aber auch impulsiv und durchaus auch „hart im Nehmen“. Ist der Verstand gut ausgeprägt, können solche Leute spontan handeln und agieren und dies meist auch richtig. Sie haben im Vergleich mit dem Introvertierten eine hohe Schmerzschwelle, ihr Verhalten ist nur schwer konditionierbar im Vergleich.
Die Grundmuster Extra- bzw. Introversion sind dem Menschen von Geburt an mitgegeben. Der von Madame Guyon herausgearbeitete extravertierte Typus produziert über sein regelmäßiges Verhalten ein hohes Maß an emotionaler Erregung (Zustand) selber. Es bietet sich daher an, sein Verhalten vordergründig aus einer Stressperspektive heraus zu beleuchten. Zahlreiche Aktivitäten dieses Typus z. B. auch seine caritativen Tätigkeiten sorgen dafür, dass solche Menschen oft einen massiv beschleunigten Lebensrhythmus stillschweigend verfolgen. Darunter leidet die an sich hohe Adaptionsfähigkeit des Betroffenen. In der Glaubenswelt von Madame Guyon stützt Gott diesen Typus über die Beziehung zu ihm selber, aber auch über die Einbettung in ein geeignetes Umfeld (Glaubensgemeinde). Seine Konstitution verhindert zwar im religiösen Verständnis ein tiefes Eintauchen in Gott und in Glaubensangelegenheiten, wirkt aber schon gleichzeitig als Schutz vor Beeinträchtigungen, die aus Krankheiten z. B. einstehen können (Trunksucht). Dieser augenblickliche Status besitzt auch die Kraft, präventiv zu wirken. So verweist Madame im Text darauf hin, dass ein Seelsorger, der dies nicht versteht, einen Betroffenen tendenziell überfordern und damit großen Schaden verursachen wird. Sein gefundenes Gleichgewicht zwischen den inneren Bedingungen aus Geist-Körper-Aktivitäten und den Anforderungen der Umwelt könnte somit aus den Fugen geraten und einen ungewissen Ausgang darstellen (Persönlichkeitsveränderungen).
Der beschriebene Typus ist zwar bei Madame Guyon nicht beliebt, aber für jemanden durchaus gesund. Gesundheit wird hier als ganzheitliche Fähigkeit betrachtet, d. h. Gedanken, Gefühle und Handlungen werden angemessen berücksichtigt und werten den Menschen über ein lediglich biologisches Gesundsein auf.
Um auf den erwünschten inneren Zustand weiter eingehen zu können, spielt eine Sichtweise im Hinblick auf unsere Emotionen eine erhebliche Rolle. Menschen handeln vom Grundsatz her nicht nur durch äußere Reize veranlasst, sondern agieren auch in hohem Maße autark. Dabei spielen Kriterien wie Selbstschutz und Selbstregulierung ebenfalls eine wichtige Rolle. Beide Fähigkeiten benötigen wir, um in der heutigen modernen Welt optimal funktionieren zu können. Emotionen sind Teil eines jeden inneren Zustandes. Sie haben eine große Strahlkraft auf die Organisation von Denken und Verhalten. Manche sind da anderer Meinung und betrachten die Emotion eher in einer desorganisierten Funktion.
Emotionen schränken unser Wahrnehmungsfeld ein. Das heißt konkret, die Zahl der Dinge, auf die der Mensch achtet, wird reduziert. Durch die Reduktion von Wahrnehmungsinhalten realisieren wir die Möglichkeit von kognitiven oder Verhaltensalternativen. Im Ergebnis erhöhen wir unsere Funktionstüchtigkeit. Emotionen besitzen Motivationswert. Auch mobilisieren sie Energie. Damit sind sie brauchbare Hilfsquellen für jeden Menschen.
Damit wir effektiv bleiben, d.h. heute gesund und funktionstüchtig, müssen wir uns unsere Emotionen nutzbar machen. Dies kann z. B. dadurch geschehen, indem wir unsere Interessen feststellen, und Aktivitäten daran orientieren. Damit wir überhaupt von Emotionen profitieren können, ist es unumgänglich, sie zuzulassen. Erst dann haben wir die Möglichkeit der menschlichen Kontrolle und Verwendung.
Für den ersten Persönlichkeitstypus, den Madame Guyon über den aktiven Lichtweg definiert, kann man
nun konkret Problemzonen erkennen, die einem Menschen den Weg in eine „Trunksucht“ ebnen. Insbesondere über den Einbezug von einem Engagement im Glauben gelingt es dem Typus, sich perfekt an der
Oberfläche einzurichten. Das erreichte hohe Ansehen, der nachweisliche Erfolg, sind wichtige Kriterien, die bisher zu einer Zufriedenheit im Innern einer Person maßgeblich beigetragen haben und
die nun über Gewohnheitsaspekte beginnen, auseinander zu brechen. Weitere Steigerungen sind subjektiv nicht mehr möglich (Gottes Gaben). Ein bis dahin unauffälliger Konsum von Alkohol erhält
nunmehr unbewusst eine andere Wertigkeit im Individuum. Aufkeimende Sättigung, Eintönigkeit und größer werdende Leere führen zu einer Unausgeglichenheit, die kompensiert werden muss. Über den
Konsum von Alkohol wird der innere Zustand verändert und davon ausgehend künftiges Denken und Handeln entschieden beeinflusst. Aus normalem Konsumverhalten entsteht Regelmäßigkeit, was meist zu
Auffälligkeiten führt und diese dann ein weiterer Grund werden, kaschiert zu werden. Der Stressfaktor wird immer größer, die Person nunmehr die eines „Betroffenen“ verstrickt sich immer mehr in
sich selbst. Die Diskrepanz zwischen – gelebter Schein – innerer Zufriedenheit – tieferem Begehren –wird stetig größer.
Ein ehemals abgestimmtes und auch funktionierendes Selbstschutzsystem bricht ein. Alle Sicherheitsaspekte der Vergangenheit gehen verloren. Über eine beginnende Sucht entsteht ein faktisches
Suchen. Suchen aktiviert Sehnsüchte, die dann wiederum zu Unzufriedenheiten beitragen und Grund für weiteren Konsum werden. Immer mehr geht der Bezug zum inneren Selbst verloren. Bei Madame Guyon
ist dies die innere Mitte. Sie markiert das Zentrum der Person. Jeder Mensch steuert sich in gewisser Weise selbst. Von der Mitte ausgehend in die „Richtungen“ und in die „Intensität“. Beides
sind wichtige Variablen einer Verhaltenssteuerung, die in einem selbst entspringen und dies auch bleibend sollten. Innerhalb einer Suchtentwicklung geht dies verloren. Für einen Seelsorger sind
es Instrumente, die er nutzen kann, wenn er jemand in seiner Gläubigkeit vertiefen möchte. In der Lebenswirklichkeit sind die Menschen in einer solchen Phase nur sehr schwer ansprechbar auf
jedwede Verhaltensänderung und Einsicht. Der Gläubige wird sich mehr und mehr in seinem Engagement vertiefen, der Trunksüchtige wird immer tiefer seiner Sucht verfallen. Aus der Suche entsteht
das Siechtum. In beiden erwähnten Lagern entsteht aber auch Widerstand. Die „Arbeit am Widerstand“ verspricht aber die Chance, für eine Neuorientierung empfänglich zu
werden.
Gelingt einem Seelsorger in seinem Arbeitsfeld, jemanden von der Sinnhaftigkeit des Gebets zu überzeugen (Madame Guyon), so hat er viel erreicht. Beten bedeutet ja meditieren und bietet dadurch ein Medium für Veränderung. Damit hat jeder Seelsorger gute Aussichten in seiner Klientel einen Kurswechsel zu erreichen. Die Arbeit am Widerstand kann parallel weitergeführt werden. Verläuft sie erfolgreich, löst der Glaubensklient seine Abwehr auf. Er kann verdrängte Bedürfnisse artikulieren und dadurch in einen entsprechenden Dialog mit seinem Seelsorger eintreten. Weiterhin können Ängste aufgelöst werden, vor allem aber eine unbekannte Gegenwehr zur Verbesserung seiner persönlichen Lage wird eliminiert. Mögliche Schuldgefühle aus der Gewissensbildung werden ebenfalls angesprochen und aufgelöst.
Derartige Erfolgserlebnisse bereichern natürlich auch die psychologische Arbeit bei der Suchtklientel. Wichtig bleibt hier, dass die Arbeit am Widerstand in jedem Falle geführt wird, sie ist unverzichtbar. Das Gefühlsleben eines jeden Süchtigen ist ambivalent geprägt. Sein gelebtes Ja und Nein zu wichtigen Dingen muss aufgedeckt und in eine neue Gradlinigkeit hineingetragen werden.
Die schon angesprochene Symbolik als Ausdruck von Sprache erfährt in erfolgreicher Suchtarbeit einen erweiterten Bedeutungsgehalt. Die erlebten Standardgezeiten der Vergangenheit (Erinnerung), der Gegenwart (innerer Zustand) und der Erwartung (Hoffnung und damit Zukunft) erfordern eine erweiterte Betrachtung bezüglich der Perspektive des Status Gegenwart. Diese ist eigentlich dem Grunde nach zeitlos. Für Gläubige ist maßgebend Gottes Schöpfungsakt zum Licht (aktiver Lichtweg). In der Bibel heißt es zur Gottesaussage: „Es werde Licht und es ward Licht.“ Und jeden Tag aufs Neue. Aus der Formulierung „ward“ ergibt sich sprachlich eine erweiterte Zeitperspektive. Licht ist also immer, d. h. immer gegenwärtig präsent. Damit wird Licht als Symbolik für die Gegenwart verändert zu betrachten sein. Dies hat natürlich auch psychologisch eine Bedeutung für die Zeitperspektive des Erlebens im Mensch. Es untermauert die Gegenwartsbezogenheit in der Lebensform, die wir meist nicht entsprechend würdigen, die aber eine erhebliche Einflussgröße im Hinblick auf den inneren Zustand ist. Aktualität erhält eine neue Bewertung. Veränderte Bewusstseinszustände, die oft angestrebt werden, sind demnach auch in einem neuen Lichte zu betrachten. Sie beziehen sich auf die Gegenwart. Meditationen wie z. B. auch das Beten steuern die Gegenwart als zeitliche Ausdrucksform. Eine vierte Zeitperspektive ist demnach in der Gegenwart verbessert gegenwärtig sein. Dies hat Einfluss auf den erwähnten inneren Zustand unseres Erlebens, für Gläubige ein Akt, der durch Gott gewollt ist.
Zur Abrundung des ersten Teils von Madame Guyons Persönlichkeitstypologie soll der aktive Part, der auf jeden zukommt und den sie auch hervorhebt, um das Folgende ergänzt werden:
Dieser hochaktive Anteil ergibt sich aus der Auseinandersetzung mit sich selbst. In diesem Sinne fungiert der christliche Gott auch nur als Mittel zum Zweck. Nach Madame Guyon ist diese Funktion gewollt. Gottes Allmacht, Allwissen und Allgüte ist eigentlich das Erdrückende in der Glaubenswelt. Die Herausforderung zur Aktivität entspringt primär seiner Allmacht. Alles wäre festgelegt, der Mensch kann der Dinge harren, die da unabänderlich auf ihn zukommen. Dem ist in unserer Lebenswirklichkeit nicht so, weil wir im Sinne Gottes lediglich auf das Gute determiniert sind. Dieser Bezug ist die Verpflichtung zur aktiven Handlung im Konflikt mit der vorgenannten Trinität.
Aktivität kennzeichnet im besonderen Maße auch jede therapeutische Sequenz. Alles was verändert, lebt nach bisherigem Verständnis von dem Kriterium aktiv
zu sein.
Auch hier ist es wieder zweckmäßig, einige Begriffe, die thematische Schwerpunkte beeinflussen, etwas näher zu betrachten. Der von Madame Guyon beschriebene Weg wird auch wieder in einem Zusammenhang zum inneren Zustand gebracht und über die Herausarbeitung der Unterschiede zum ersten Typus diverse Vergleiche angestellt.
Ratio: Gemeint ist im Allgemeinen der Aspekt der Vernunft, des Verstandes, ein Erkenntnisgrund oder auch der sinnvolle Zweck einer Handlung.
Für unsere Zwecke ist entscheidend, die Ratio als menschliches Erkenntnisvermögen zu betrachten, das diese aus den Sinnesgegebenheiten schöpft, und in einen Zusammenhang mit übergeordneten Einsichten stellt (Intellekt). Ratio bedeutet also Erkenntnisgewinnung über die Schiene Vernunft und Verstand.
Geist: Die Definition, die hier von Interesse ist, ist die philosophische Begriffsbestimmung. Mit Geist meinen wir Denken, Vernunft oder auch Bewusstsein als die über das Sinnliche und Materielle hinausreichende Seite des menschlichen Seins. Mit Geist meinen wir also die immaterielle Seite einer Wirklichkeit. Die eigentlichen Geistesaktivitäten heben uns Menschen über die körperliche Dingwelt und die unmittelbare Wahrnehmung hinaus in eine übergeordnete sog. intelligible Welt, die auch in de Lehre von Madame Guyon als „das Absolute“ betrachtet wird. Intelligibel bedeutet rein intellektuell, also nicht sinnlich wahrnehmbar. Beispiel: Barmherzigkeit kann man nur so definieren und erfassen. Eine Welt also der auch im philosophischen Sinne oft erwähnten Ideen. Auch aus dem Seelenbegriff ergibt sich die Unterscheidung des vom Geist getragenen Seelenteils und den vegetativen bzw. den animalischen Seelenanteilen.
Die Sinne: Wesentlicher Bestandteil des Menschen ist nicht nur sein Körper oder Geist, sondern auch die Tatsache, dass er Sinne besitzt. Über die Aktivitäten unserer Sinne bilden wir regelmäßig den Kontakt zur Schöpfung des christlichen Gottes. John Locke ist in seiner Erkenntnistheorie davon ausgegangen, dass nichts im Verstand sein kann, was vorher nicht in den Sinnen war. Grundlage dieser Kernaussage wurde die Empirie. Die im tieferen Glaubensverständnis anzusprechende asketische Lebensform bedarf des Instrumentariums der Sinne.
Bei der Präsentation des „passiven Lichtweges“ macht Madame Guyon deutlich, dass es einen Unterschied zwischen der menschlichen und göttlichen Liebe gibt, und diese auch eine erhebliche Bedeutung innerhalb ihrer Lehre hat. Menschliche Liebe bedeutet immer etwas Gegenständliches. Nur so kann etwas von Liebe erfasst werden. Die von ihr gemeinte menschliche Liebe erfasst den Menschen ganzheitlich. Aus diesem Blickwinkel heraus müssen wir versuchen, Ihre Sichtweise zu verstehen. Ein großer Teil unserer Wahrnehmung geschieht über das Hören, Zuhören ist wichtiger Teil einer jeden funktionierenden Beziehung. Hören erfordert damit auch Zeit. Beides, Hören und Zeit, binden Aufmerksamkeit und diese wird regelmäßig Teil unserer Liebe, die wir zur Verfügung stellen und in der wir abgeben und empfangen. Damit wird über die erfahrbare Liebe auch unser innerer Zustand auf vielfältige Weise beeinflusst und zeigt sich auch in unserem Verhalten.
Aus theologischer Sicht ist Hören ein wertvoller Sinn und hat bei allen Glaubensvertretern einen hohen Stellenwert. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Grundverständnis der direkte Bezug des Hörens zum Schweigen. Auch dies bereitet unseren inneren Zustand auf und macht uns offen für Gottes Wort. In der Stille finden wir die nötige Ruhe. Dieser Zustand wiederum begünstigt den Aufbau von Erwartungshaltungen. Erst jetzt können wir wahrhaft sensibel reagieren. Hören bedeutet empfangen. Wer empfängt, entwickelt auch die Bereitschaft zum Geben. Gaben haben eine wichtige Funktion in der Entwicklung der Persönlichkeitsstruktur von Madames Lehre.
Hören im Kontrast zur Stille ist ein wichtiges Kriterium zum Gebet und damit zum Eintreten in Gott. Im psychologischen Sinne ebnet das richtige Hören über eine erhöhte
Sensibilität für jeden einen besseren Zugang zur eigenen Mitte, zu unserem Selbst.
Sehen: Wie das Hören ist auch das Sehen eine Fähigkeit des Menschen, die psychologisch betrachtet dem Mensch eine Umgangsform abverlangt. Sehen und Hören sind damit auch Fertigkeiten des Menschen. Im christlichen Glauben ist tief verankert die Ansicht, dass Gott in ein jedes Herz das Verlangen gepflanzt hat, ihn zu sehen. Unser alltägliches Sehen wird damit sehr von unserem Verlangen gesteuert. Das können augenblickliche Bedürfnisse sein, aber auch längerfristig integrierte Verhaltensweisen, die uns z. B. als Einstellungen bekannt sind und ausmachen. Sehen macht uns also sehr zum Gestalter von uns selbst. Sehend nehmen wir die Welt an Farben, Formen und in ihren Erscheinungen wahr. Für die religiöse Auffassung des Sehsinns als Teil der Wahrnehmung ist eher interessant der Aspekt des Schauens. Dieser entspringt der Symbolik des Herzens, dringt offen in alles hinein und hindurch. Die Auslese des Herzens prägt und verändert uns. Unsere Augen verraten uns auch. Sie spiegeln die Gaben der Friedlichkeit, harmonisch gestimmt zu sein, zur Versöhnung bereit oder auch aggressiv aufgeladen. Der Glaube macht aus dem tieferen Blick ein tieferes Schauen. Das bereits erwähnte Verlangen zeigt sich primär in unserem Lebenstrieb. Dieser ermöglicht unser menschliches Werden und damit unsere Entwicklung. Als Sucher folgen wir dem Lichte und damit Gott. Der Mensch ist von Natur aus auch ein religiöses Wesen.
Die im „Detail“ aufgeführten Aspekte werden an dieser Stelle verbessert in eine psychologische Ordnung gestellt. Das macht nicht unbedingt im psychologischen Grundverständnis einen Sinn, spiegelt aber ein Stück weit deutsche Gewohnheiten.
Ein erster persönlicher Bezug zur Suchtproblematik kann derjenige, der möchte, nun auch in seinem persönlichen Erfahrungsbereich versuchen nachzuvollziehen. Wer autogenes Training beherrscht, kommt schon mit der Anfangsstufe zurecht und kann seine Erfahrungen hier einsetzen, indem er aus einer entspannten Grundhaltung heraus sich mit den Inhalten beschäftigt. Eine derartige Versenkung in sich hilft auch dem Gläubigen, wenn er eine persönliche Auseinandersetzung in religiösen Angelegenheiten mit sich anstrebt:
|
Das bedeutet: | Im Alkoholismusbereich |
Selbstmanagement |
Wie lösungsorientiert verwendet sich jemand? | Erkennbar diffuses Verhalten, Zielgerichtetheit geht schon auffällig verloren. |
Selbstorganisation |
Anteile automatischer Selbstregulierung werden außer Kraft gesetzt. |
Die bisherige organisierte Einheit bricht zusammen, das Konsumverhalten verändert sich, Sucht- und Abhängigkeitstendenzen entwickeln ihre Dominanz. |
Selbstschutzsystem |
Wird außer Kraft gesetzt. |
Der Ausfall wirkt verstärkend auf das süchtige Verhalten. Kontrollverluste bahnen sich ihren Weg. |
Selbsterforschung |
Übernahme neuer Einstellungen, jemand bildet eine neue Weltsicht aus. Auffälligkeiten im Umfeld werden deutlicher. |
Schuldzuweisungen greifen um sich. Ein Rückzug beginnt, spürbar wird eine stärker werdende Einsamkeit. |
Selbstzentriertheit |
Egoistische Tendenzen grenzen die Person von der Umwelt stärker ab. Die stärker werdende Ich-Bezogenheit verläuft in eine Einbahnstraße. |
Der eigentliche Verfall der Person beginnt, jemand lebt nun verstärkt in einer selbst aufgebauten Eigenwelt. |
Selbstlosigkeit |
Narzissmus wird brachgelegt. |
Jemand gibt sich selbst auf. |
Nach einer vorübergehenden Standortbestimmung so stellt sich selbstverständlich noch die Frage, was ein von der „Trunkensucht“ Betroffener nun machen kann und sollte. In Anlehnung an Madame Guyons Grundgedanken für sinnvolle Veränderungen und unter Berücksichtigung ihrer Symbolik würde man die genannten Kriterien als Zuflüsse auffassen, die in einem angestauten See aufgefangen werden. Mit dem bereits vorhandenen Wasser dort würde eine Verschmelzung stattfinden, so dass eine neue Wasserqualität entsteht. Das entstandene Neue würde sinnvollerweise in einzurichtende Kanäle eingelassen werden. Psychologisch praktisch würde das bedeuten, dass Aufklärungsunterricht und die Vermittlung von Einsichten auf einer rationalen Ebene (Kanal 1) den rationalen Anteil am neuen inneren Zustand begünstigen. Die Einräumung der Chance, angestaute Gefühle abzulassen, sollte ein weiterer wichtiger Beitrag für die neue innere Verfassung sein (Kanal 2). Die Möglichkeit, auf neue Weise zu kommunizieren und den Einbezug des unmittelbaren Umfelds des Betroffenen bieten eine dritte Chance, Veränderungen zu begünstigen (Kanal 3), so dass ein neu gewonnener innerer Zustand über das eigene Feeling bewusst wird und für den Betroffenen Gelegenheit bietet, optimistisch in eine veränderte Zukunft zu blicken.
betrachtet mit seiner körperlichen Grundlage und auf rein geistiger Ebene in der Auffassung der christlichen Kirche. Madame Guyon hebt auf ihre Art dieses Kriterium besonders hervor. Schon zu Beginn der Lektüre erfährt es eine Würdigung, indem es als etwas in jedem Menschen fest innewohnendes erkannt wird, zunächst aber als aktiver Part. Typ 1 muss das Verlangen selbst aktivieren und ihm Beachtung verschaffen. Zum Typus 2 gehört die Umsorgung des inneren Zustandes, der das Verlangen entstehen lässt im Vergleich mit einer Quelle, die Wasser hervorbringt. Das christlich gedachte Verlangen ist ein Ruf Gottes. Innerhalb der Kirche birgt das so verstandene Verlangen schon eine Art Grundverlangen in sich. Das ist das Verlangen nach Erfüllung und Sinn. Der Katechismus spricht von einem natürlichen Verlangen des Menschen nach Glück, das Gott in das Herz der Menschen legt, um ihn nach christlicher Auffassung an sich zu binden. Nur Gott vermag dieses Verlangen zu stillen. Ein weiterer Punkt ergibt sich aus den Leidenschaften der Menschen in der christlichen Aufklärung. Hier wird das Verlangen über die Bildung von Kontrast aktiviert, z. B. Liebe und Hass oder Freude und Trauer.
Weil die Lehre von Madame Guyon in der psychologisch orientierten Interessenlage den inneren Zustand über unser Bewusstsein hervorhebt, macht es Sinn, kurz die biologisch-regulatorischen Mechanismen zu betrachten, die dann wieder Einfluss auf unser menschliches Verlangen haben. Jeder Organismus unternimmt regelmäßig enorme Anstrengungen, um sein inneres Milieu konstant zu halten. Diesen Prozess nennt man Homöostase. Biologische Triebe haben ihren Ursprung in physiologischen Bedingungen, die auf dieser Ebene das Gleichgewicht stören. Passiert dies, wird der Mensch auf allen Ebenen versuchen, das Gleichgewicht so gut es geht ins Lot zu bringen. Solche Vorgänge sind z. B. die Regulierung des Blutzuckerspiegels, die Aufrechterhaltung der richtigen Körpertemperatur oder auch das Verhältnis Sauerstoff zu Kohlendioxid im Blut. Weil alle biologischen Bedürfnisse zur gleichen Zeit nie befriedigt werden können, ist der Mensch genötigt, komplexe höhere Formen von Aktivitäten zu entwickeln, um das bestehende Homöostaseproblem lösen zu können. Nur so ist er im Übrigen anpassungsfähig (Adaption an die jeweiligen Umweltbedingungen).
Menschen passen sich aber nicht nur biologisch an, sondern auch psychologisch. Für die Lektüre ist von besonderem Interesse, wie der Aspekt der Deprivation hier eingreift. In modernen Gesellschaften ist der Einbezug christlichen Gedankenguts in die praktische Lebensform zum Teil schon verpönt. Spirituelle Angelegenheiten, die mit dem Glauben der Kirchen zu tun haben, finden immer weniger Beachtung. Schon seit Jahren wird intensiv aus östlichen Kulturen Gedankengut ins westlich-kapitalistische Denken integriert, um offensichtlich vorhandene Lücken zu schließen. Grundsätzlich gilt hier, dass gut das ist, was hilft. Trotzdem muss hinterfragt werden, ob die westliche Religiosität und der Glaube hier in der Moderne genügend Würdigung erfährt. Es ist ja tatsächlich so, dass der Glaube und die Hoffnung auf einen Gott tief im Wesen eines Menschen verankerte Bedürfnisse sind und bleiben. Bedürfnisse drängen immer weiter nach Befriedigung oder initiieren eine stetige Suche nach anderweitigen Lösungen.
Über unser subjektives Erleben (Zustand) sorgen wir selbst dafür, dass wichtige Selbstregulierungskräfte in Gang gesetzt werden. Der menschlichen Bewusstheit nicht zugänglich sind die Bewegungen des vegetativen Nervensystems. Das System regelt alle unbewussten und nicht willentlichen Vorgänge in unserem Körper. Biochemische Vorgänge halten unser Nervensystem in Gang. Über sog. Neurotransmitter erfolgt die Informationsverarbeitung bis hin zur entsprechenden Speicherung der Vorgänge im Gedächtnis. Unsere Wahrnehmung, unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen werden von Botenstoffen getragen, weitergeleitet und verarbeitet. Zum Teil entfalten diese körpereigenen Stoffe auch eine von Menschen gewollte und benötigte Drogenwirkung. Damit wird der Mensch auch sein eigener Drogenproduzent. Wir besitzen die Fähigkeit, aus uns selbst heraus antriebssteigernde, euphorisierende, anregende oder auch beruhigende Drogen zu stimulieren. Längst ist bewiesen, dass unsere Gefühle, unsere intellektuelle Leistungsfähigkeit und unsere geistige Einstellung gegenüber der Umwelt von einem optimal abgestimmten Zusammenspiel der körpereigenen Drogen abhängt. Auf dieser biochemischen Ebene funktionieren wir dann optimal, wenn eine Ausgewogenheit zwischen aktivierenden und beruhigenden Botenstoffen erreicht werden kann.
Diese körpereigenen Stoffe sind das biochemische Äquivalent unserer Lebensenergie und damit unserer Persönlichkeit.
Die aktivierenden, also auf Tätigkeit gerichteten körpereigenen Drogen sind energieverbrauchend und führen zu psychisch-körperlichen Anspannung. Zu dieser Gruppe zählt Adrenalin, Noradrenalin, die Schilddrüsenhormone, Dopamin und auch Acetylcholin.
Für Entspannung sorgen u. a. die beliebten Endorphine, Serotonin, Endovalium, Cortison usw.
Wichtig ist die aktivierenden und die beruhigenden Botenstoffe nicht als Gegenspieler, d. h. Antagonisten, aufzufassen, sondern als sog. Synergisten, d. h. als Teilkräfte einer gemeinsamen Lebensenergie, die zusammenfließen, ineinander übergreifen und harmonisch für unser aktives „Sein“ sorgen.
Die subjektive augenblickliche Verfassung eines jeden wird zum einen von einer ganzen Reihe diverser Automatismen bestimmt, aber auch auf einer anderen Seite über die erwähnten Symbole bzw. deren Entschlüsselung. Oft müssen Besonderheiten in der Umwelt noch hinzukommen, damit wir über das Kriterium Bewusstheit im Medium des Bewusstseins uns als ganze Person erleben können. Stress entsteht z. B. dadurch, dass wir nie ganz genau wissen können, ob wir zur Bewältigung einer Situation genügend Informationen haben. Stress ist demnach der Unterschied zwischen notwendiger Information und der im Augenblick zugänglichen Information. All dies geschieht in der Perspektive eines Zieles. Von dieser Ausgangsposition aus wird der Mensch ein Handelnder.
Die Folge davon ist, dass immer zwei Prozesse parallel nebeneinander ablaufen, zum einen die Kommunikation zwischen Zustand und Bewusstsein, zum anderen der psychologische Akt zwischen bewusstem und unbewusstem Tun. Beides prägt die Fähigkeit zur Selbstregulierung.
Der Extravertierte ist ein aus sich heraustretender impulsiver Typ, der auf regen Austausch mit anderen Menschen angewiesen ist. Nach dem Wissenschaftler Eysenck sind Extravertierte eher wechselhaft, aktiv, optimistisch, aggressiv, vor allem aber leicht erregbar und oft auch sorglos. Der so beschriebenen Außengesteuerte empfindet Belohnung als etwas das eher unabhängig von seinen eigenen Bemühungen vergeben und durch äußere Kräfte gesteuert wird. In Madam Guyons Lektüre leitet sich hier der Bezug zum christlichen Gott und Glauben des Typus 1 ab.
Über die Darstellung der Symbolik des aktiven Lichtweges verkörpert sich wie erwähnt der Extravertierte als Typus 1 in Madame Guyons Lehre. Auf der Suche nach dem Selbst der Person ist die praktizierte religiöse Lebensform und die damit verbundene Festigkeit im Glauben an Gott eine unbedingt wirksame Station im Lebensweg eines so aufgestellten Menschen. Es ist nachvollziehbar, wenn Madame darauf hinweist, dass nur über einen längeren Zeitraum (10 bis 20 Jahre) und mit Hilfe des Gebetes einer Änderung der Intensität möglich würde. Einbezogen in diese Sicht der Dinge ist sicher auch der Prozess des Älterwerdens, der gewisse Automatismen mit sich bringt, die jemanden auch im Glauben wachsen lassen können. In eine Glaubensgemeinde fest eingebunden zu sein, Kontakt zum Seelsorger zu pflegen, sind unverzichtbare Merkmale darin, den eingeschlagenen religiösen Weg aufrechterhalten zu können. Das so geschaffene „Wir-Gefühl“ ist nach psychoanalytischer Auffassung dafür verantwortlich, dass keine erwähnenswert andere Qualität im Gottesbezug je hergeleitet werden kann. Die eingegangene Gemeinschaft versorgt die Person mit jenem „ozeanischen Gefühl“, das der Mensch aus der symbiotischen Beziehung zur leiblichen Mutter und der damit verbundenen Selbstgenügsamkeit kennt. Kommt hier für die Person eine hohe Akzeptanz und reichlich Erfolg hinzu, kann man von einem kausalen Ursprung für die glaubensmäßige Beziehung des Menschen sprechen. Ein schneller Anfang führt schnell zu einem langfristigen Ende.
Der passive Lichtweg soll den Typus 2 ihrer Lehre kennzeichnen. Psychologisch betrachtet kann man hier ein Konzept des Narzissmus annehmen.
Madame Guyon unterscheidet im passiven Lichtweg zwei Kategorien bei der Frage, wie die Menschen vom Glauben erfasst werden. Die eine Gruppe kennen wir schon, ihr Typus basiert auf dem aktiven Lichtweg. In der Ausdrucksweise von Madame Guyon ist dieser geprägt von der sog. menschlichen Liebe, aber auch gekoppelt an den Machtbegriff. In Gottes Allmacht finden alle Menschen auch einen Gottesbezug. Der menschliche Liebesbegriff reduziert die Liebe auf die sinnliche Erfahrbarkeit. Dieser setzt in Madames Denkwelt einen Gegenstand voraus. Aufbauend auf dieser Erfahrungswelt gelingt Menschen dieses Typus die sog. „passive Beschauung“, d. h. ein Wechsel in die vergeistigte Welt der Liebe. Es ist die „amor fati“, die Liebe zum Schicksal, von der Nietzsche spricht. Wir übernehmen eine Lebenseinstellung als vorgezeichnetes Schicksal, ein neues Ja zum Leben entsteht. Dieses neue Lebensgefühl ist damit kein aktiver Part des Menschen, sondern zu verstehen als ein Akt der Einsicht, eine Erleuchtung, eben eine Wirkweise Gottes.
Allgemein versteht man darunter Menschen, die einen eigenen, in sich selbst verliebten Lebensstil pflegen, die aber auch außergewöhnlich schön sind oder anderweitig imstande, Aufmerksamkeit zu binden. Bei den Damen symbolisiert die Märchenkönigin in Schneewittchen dieses Ideal.
Narzissten sind also Menschen, die nur sich selbst bewundern und regelmäßig die Umwelt dazu missbrauchen, ihrer Selbstbewunderung ein Echo zu verleihen. Alle Umwelt ist Publikum, das für ständigen Beifall sorgen muss und dabei als Spiegel für die eigene Großartigkeit dient. Narzissten provozieren Neid heraus und haben allgemein einen schlechten Ruf. In der Welt der Kunst und Wissenschaft sorgen sie heute für volle Kassen.
Die Großartigkeit, die dieser Personenkreis einzunehmen schein, steigert Madame Guyon noch, indem sie in ihrer Darstellung diesen Menschen ein seelisches Bedürfnis nach einem überpersönlichen Lebenssinn unterstellt. In der Konfrontation mit der Gesellschaft gerät dieser Teil einer Innenschau jedoch in Gefahr. Damit solche Personen für ihre Umwelt tragbar bleiben, müssen Lösungen entwickelt werden, die dies möglich machen. Im psychologischen Sinne wäre dies eine Rückbesinnung auf den Kern der Person, das eigene Selbst. Diese Sicht würde auch Madame Guyons Wesensverlagerung auf Gott einbeziehen. Eine Wandlung, die dem Einzelnen seine individuelle und soziale Bestimmtheit erkennen lässt wäre die ideale Veränderungslösung. „Selbst – Erfahrung“ ist eben kein lapidarer Prozess, sondern für die meisten ein steiniger Weg. Die Suche nach dem Selbst steckt sehr oft hinter dem Hang nach Drogenerfahrungen, begünstigt aber auch religiöse Entdeckungswege.
Die zweite Art des Typus 2 lebt und praktiziert einen tiefen Gottesbezug aus seiner tiefen Überzeugung heraus. Nach Madame Guyon gelingt es diesen Menschen allerdings nicht, bis zu ihrer Mitte, ihrem Wesen, vorzudringen. Nach bisherigem Informationsstand wäre dies lediglich den Mystikern selber zugänglich (s. S. 20 oben).
Der Mystiker erlebt seine Beziehung zu Gott auf eine Art und Weise, die der normalen Bürgerwelt nicht nachvollziehbar ist. Das gilt ebenso für das persönliche Empfindungsvermögen des Mystikers. Über seine persönliche Erfahrungswelt gelingt ihm auf Abruf eine tiefe Versenkung in sein inneres Selbst. Die Gotteserfahrbarkeit wird spürbar über die Nachvollziehbarkeit des sog. Gegensätzlichen in allen Erscheinungen. Der Akt der Auflösung der Gegensätze passiert in der Erfahrung Gottes. Im Zustand im Medium der Stille und Ruhe in sich selbst gelingt dieser Akt der Erfahrung, der kein emotionaler Akt ist. Die Ebene dieser Ansprechbarkeit ermöglicht den Personen, auch subjektiv eine tiefe Frömmigkeit zu leben. Diese ist gekennzeichnet nach außen durch eine Unantastbarkeit, die nur schwer mit anderen Merkmalen verglichen werden kann. Das Selbstverständnis, mit der diese Frömmigkeit auch gelebt wird, führt auch zu Konflikten. Dabei ist es dann Aufgabe des Mystikers, Verständnis gegenüber seiner Umwelt zu zeigen.
Für die Markierung der Persönlichkeit über den vorgenannten Lichtweg ist es lohnend, einige von Madame Guyon herausgearbeitete Erscheinungsweisen des Narzissmus vorzustellen. Auf den Glauben bezogene Relevanz hat dieser Typus die Fähigkeit der passiven Beschauung: diese ist durch den Aspekt der Erleuchtung gekennzeichnet. Spontane Einsichten überkommen den Gläubigen und lassen ihn von seinen Erkenntnissen nicht mehr los.
Der Gläubige kann eine geistige Form der Liebe erreichen, da diese im Gegensatz zur sinnlichen Liebe, die wiederum nach Madame Guyon einen Gegenstand voraussetzt, auf Erkenntnis ausgerichtet ist, ist sie in der Denkwelt des Glaubens auch eine besonders strebende Kraft, der Motor des Glaubens könnte man sagen. In der Lebenswirklichkeit zeigt sich diese Qualität der Liebe auf einer Verstehensebene im zwischenmenschlichen kommunikativen Bereich.
Die von ihr dargelegte Persönlichkeit erfreut sich hoher Beliebtheit. Als anerkannte Autorität hat sie Vorbildfunktion und ist über eine enorme Leistungsbereitschaft hoch anerkannt. Über derartige Aspekte gelingt es solchen Personen, ihre Umwelt auf einer dringend benötigten Distanz zu halten.
In der Denkwelt von Madame Guyon ist diesem Typus jedoch kein Vordringen zum Wesen seiner selbst und damit zu Gott möglich. Im Bereich des Negativen hebt sie folgendes hervor: der gelebte Größenwahn ist die auffälligste Erscheinung.
Diese Menschen verfügen über ein enormes Streben nach Macht. Sie leben ein übersteigertes Bedürfnis nach Bewunderung und sehen sich permanent in der Situation, ihre Autorität mit entsprechenden Maßnahmen umsorgen zu müssen. Da diese nicht tief aus dem Innern der Person kommt, sorgt das Kriterium für unerhörten Stress und erfasst die Person in all ihren Facetten.
Die Umwelt wird Mittel zum Zweck. Die Umweltbezogenheit entspringt der Ich-Bezogenheit. Das Ausmaß des Bedürfnisses nach Spiegelung wird zu einem persönlichen Dilemma. Objektiv betrachtet leiden diese Menschen unter ihrer Anpassungsunfähigkeit und entwickeln sich nicht selten als tragische Figur. Im Erleben ist ihr Zustand geprägt von Dissonanzen und Gewissensaktivitäten.
Da die Person sich ständig im Vordergrund sieht, verachtet sie zwangsläufig die meisten anderen. Der Aspekt
der Geringschätzung anderer hat einen hohen Stellenwert. Aus der evolutionären Perspektive heraus betrachtet, hat die Geringschätzung folgende Bedeutung: sie ist ein Vehikel, das der Vorbereitung
auf einen gefährlichen Widersacher dient. Aus der Geringschätzung der Umwelt entstammt in vielen Fällen das persönliche Überlegenheitsgefühl. Da Typus 2 nur seinen persönlichen Vorteil kennt, ist bei ihm die Bereitschaft, anderen zu helfen, nur marginal
vorhanden (Altruismus).
Im weiteren Verlauf des Textes (S. 21 unten) charakterisiert Madame Guyon die Persönlichkeitsstruktur des Typus 2. Sie spricht die Sünde an und erklärt die Übertragung der daraus erwachsenen Verständnislosigkeit bezogen auf den Sünder. Indem Menschen so ihre Tendenz zur Einsamkeit vertiefen, erwerben sie gleichzeitig eine unbedingte Härte gegenüber den Personen des Umfeldes. Madame Guyon verweist auf die Bedeutung der frühen Mutter-Kind-Beziehung und meint hier den Aspekt der Intuition, die in dieser Verbindung ihre erste Grundlage hat.
In der Arbeit mit „Trunksüchtigen“ ist dieser Aspekt bedeutungsvoll und auch so in den Vordergrund zu stellen. Er hat eine ganz erheblich therapeutische Relevanz.
Unser Typus 2 handelt rational und nach logischen Gesichtspunkten. Die intuitive Art, Handlungsentscheidungen zu treffen, erscheint als verkümmert. Intuition an sich basiert auf einem schweigenden Wissen und einer rezeptiv wirksamen Emotionalität bezogen auf den akuten Zustand. Einfach gesagt liefern also besondere Bewusstseinszustände den Hintergrund für Intuition. Neben spezifischen Merkmalen wirken auch sog. unspezifische Kräfte zusätzlich auf die so zustande gekommenen Entscheidungen ein. Dies sind z. B. auch anteilige Kognitionen. Intuition entsteht auch selbständig aus der Interaktion zwischen Emotion und Kognition.
Die meisten Süchtigen stecken in einem persönlichen Dilemma so zu handeln, und sich danach auf die Richtigkeit der Entscheidungsfindung auch einlassen bzw. verlassen zu können. Der durch den Konsum von Drogen wirksam veränderte Bewusstseinszustand irritiert den handelnden Süchtigen. Aus dieser Irritation entsteht die Dynamik des gesteigerten Konsumverhaltens hiernach. Der Süchtige ist auf der Suche nach Sicherheit, die er aus sich selbst heraus nicht mehr herstellen kann. Das Erreichen einer inneren Balance gerät immer mehr aus den Fugen und wird in einer weiteren Entwicklung dem Betroffenen unmöglich. Konsumierte Substanzen bestimmen die Richtung des Handelns und verändern gleichzeitig die Intensität des Erlebens. Die im glaubensmäßigen Sinne von Madame Guyon angesprochene Passivität kann nicht mehr abgewartet werden (S. 22 oben).
Textausschnitt S. 22: „… sie haben Mühe, mit unvollkommenen Menschen ins Gespräch zu kommen, ziehen ihre Einsamkeit vor, und ihr Weg hat alle Unbequemlichkeiten der Liebe.“
Hier beschreibt Madame Guyon ein in sich geschlossenes Handlungs- bzw. Funktionssystem (Kreislauf) einer Persönlichkeit (Typus 2). Diese Sequenz ist
selbstverständlich zusätzlicher Teil eines übergeordneten Ganzen. Die von ihr unterstellte Persönlichkeit hat Probleme im Umgang mit anderen. Wie sie diesen Typus charakterisiert, liegt der Grund
in einem gelebten Überlegenheitsgefühl. Um eine jeweilige Talfahrt zu verhindern, zieht die Person sich zurück in ihre Einsamkeit, also auf sich selbst. Das bedeutet, die ganze Person befindet
sich auf dem Rückzug, und zwar deshalb weil der Grund in ihrer Persönlichkeit liegt. Persönlichkeit bedeutet immer emotionale Erfahrung, keine intellektuelle. Die intellektuelle Leistung würde
darin bestehen, ein derartiges Verhalten erfolgreich in eine bestehende Gesamtentwicklung zu integrieren. Eine Suchtpersönlichkeit entwickelt an dieser Stelle ernsthafte Schwierigkeiten. Die
nötige Unabhängigkeit von Entwicklungsschritten als Teil der Gesamtentwicklung unterbleibt. Im Alltag verstehen wir dies oft als Reifeprozess, der stockt und der die Person vor allem negativ von
anderen abgrenzt. Die Suchtpersönlichkeit wehrt sich eigentlich gegen diesen Unabhängigkeitsprozess. Über Effekte der Zeitdauer begünstigt der so produzierte Stress süchtiges Verhalten. Ein
tieferes Verlangen entsteht auch aufgrund einer schon biologisch vorgegebenen Zielgerichtetheit im menschlichen Verhalten. Suchtmittel sorgen für Betäubung auf Zeit. Auf einem Glaubensweg endet
der Weg „in Unbequemlichkeiten der Liebe“. Damit ist Wissen gemeint. In der Lebenswirklichkeit bedeutet es für den Süchtigen wie auch für den Gläubigen, dass beide über die nötige Erkenntnis und
das dazugehörige Wissen verfügen können. Für den Süchtigen ist es eine Belastung.
Aus den bisher dargelegten Merkmalen zweier verschiedener Persönlichkeiten nach Madame Guyon ergeben sich auf der Basis von vier Grundbedürfnissen der Menschen folgende biologische Triebansprüche mit ihren Besonderheiten:
Bedürftnis 1 nach Nahrung: dient dem Überleben des Einzelnen | Bedürfnis 2 nach Intimität: dient dem Überleben der Art | Bedürfnis 3 nach Lernen: dient dem Überleben des Einzelnen | Bedürfnis 4 Gutes zu tun: dient dem Überleben der Gemeinschaft | |
Befriedigung | durch Nahrungszufuhr | erreichte Glückszustände oder Zufriedenheitsgefühle | bietet Sicherheit | aus Feedback durch Anerkennung |
vorläufiges Ende | durch Sättigung bzw. rationales Aufhören | Erschöpfungszustand | durch Sättigung oder begründetes Aufhören | aus dem Gefühl für Balance |
was bleibt oder kann entstehen | der Drang nach mehr | ein Verlangen | der Drang nach Mehr | Tendenz zum Altruismus/ Verlangen |
Weiterführung | durch Ablauf von Zeit (Hungerperiode) | aus einem Ungleichgewicht heraus | aus Vergessen/Ablauf von Zeit |
aus einem Ungleich-
gewicht |
Manifestation im Organismus | erhöhte Handlungsbereitschaft (Suchtpotential, der Antrieb zum Erleben und Motivationen, die bereits aktiviert sind | die biologische Ausrichtung auf ein Ziel und eine Hingezogenheit auf ein Objekt (Symbol) | Streben nach Erfolg |
Objekt-
abhängigkeit |
Korrelation | mit Lernen | mit dem Aspekt Gutes zu tun | mit dem Nahrungstrieb | mit Intimität |
Mit welcher Persönlichkeit haben wir es im passiven Lichtweg zu tun, wenn eine theologische Sichtweise in den Vordergrund gestellt wird?
Madame Guyon charakterisiert einen tiefgläubigen Menschen, jemand, der sehr stark in die christliche Glaubenswirklichkeit eingebunden ist. Dieser Mensch genießt ein hohes Ansehen, Respekt und Achtung und lebt in einer gesicherten sozialen Stellung. Dieser Jemand ist von Gott als Schöpfer mit allen Fähigkeiten ausgestattet worden, in Madames Glaubenswelt einer, der passiv mit Gott korrespondieren kann. Damit ist die Person im Glauben an Gott eingebunden, allerdings noch nicht nach Madame Guyons Ideal.
Der gültige Maßstab in der Gottesbeziehung basiert auf dem Aspekt und der Kraft der menschlichen Liebe, das bedeutet objektbezogene Liebe unter Einsatz aller sinnlichen Erlebensmöglichkeiten. Dem Grunde nach wird der Gottesbezug personifiziert, ebenso alle christliche Symbolik. Die hieraus erwachsene Lebendigkeit bildet die Basis für die gelebte Glaubensgrundlage. Die Dinge werden zu Geschöpfen des christlichen Schöpfergottes. Auf diese Weise gewinnen unsere Sinne für den Christen erst im Glauben ihre eigentliche Bedeutung und entfalten hierin ihre wirkliche Kraft. Sie ermöglichen den Weg in eine Glaubenstiefe und einer damit verbundenen Überzeugung. Aus der Objektbezogenheit entsteht hier nicht Distanz, sondern Nähe und persönliche Erfahrbarkeit eines Gottes.
S. 21: „… dass sie umso leichter und schneller zu ihm geleitet werden möchten.“ Diese Symbolik steht für
Madame Guyons definierte Freiheit des Gläubigen. Ihr Typus 2 tut ungebrochen Gutes. Hieraus entwickelt er die allgemein gültige Freiheit, die von einem Tiefgläubigen erfahren werden kann. Wie im
Katechismus verankert, ist die Freiheit auch bei ihr ein höchstes Gut neben dem Aspekt der Seligkeit. In der Freiheit liegt auch die Möglichkeit zwischen Gut und Böse zu wählen, vor allem aber
lässt die Freiheit Zweifel zu (S. 21 Mitte). Quelle des Zweifels ist die Abhängigkeit der Person vom Kriterium der Wahrnehmung der Dinge Gottes. Das Übel erklärt sich also aus der sinnlichen
Erfahrungswelt heraus. Hieraus entwickelt sie narzisstische Tendenzen der Person (Selbstbespiegelung) mit allen Konsequenzen. Letztendlich entsteht auch das Böse so im vorgenannten
Typus.
S. 19 oben. Die zweite Gruppe von Menschen hebt sich deutlich vom Durchschnitt in dieser Zeit ab. Der von Madame charakterisierte Typus beeindruckt die Umgebung sehr. Die Flusssymbolik beschäftigt sich mit dem Dahinfließen unseres Lebens und dessen Verfließen, verbunden mit dem Appell an den interessierten Leser, auch über sich selbst nachzudenken, z. B. über die Frage des eigenen Lebens. die Art, wie die Zeit dahinfließt, und was man daraus macht. Der griechische Philosoph Heraklit sagte: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“
Das Fließen des Flusses kann man auch in einen persönlichen Bezug zum Fließen der eigenen Energie stellen. Fühlen wir uns in einem Fluss so wie es der Fluss ist? Oder leben wir in einem Stillstand? Madame Guyon stellt in diesem Zusammenhang die existentiellen Lebensfragen in den Vordergrund. Die Flusskarte, die sie erstellt, symbolisiert die großen Lebenszusammenhänge. Wichtige Gründe nochmals, um die eigene Existenz zu reflektieren.
Die theologische Auffassung der Symbolik ist deswegen interessant, weil hierdurch das Prinzip des Schöpferischen herausgearbeitet wird. Nach der Lehre Jungs entsteht dies aus der Gegensätzlichkeit von Bewusstem und Unbewusstem im Symbol. Die so in Gang gesetzte Bewegung sucht nach einer Lösung, meist in der Gestalt eines „neuen dritten Merkmals“. Die Psyche tendiert grundsätzlich immer nach Entwicklung. Nach der Schöpfung ist der menschliche Organismus demnach so angelegt (Seele). Krank werden wir, wenn wir den Drang danach nicht mehr erfahren können. Nach Madame Guyon lebt der „Betroffene“ dann „in einer bestimmten Ordnung“. Jemand ist demnach also so festgefahren, dass er den Anfang von einem langen Ende erreicht hat.
Im passiven Lichtweg wird die Bewusstwerdungsmöglichkeit des Menschen sehr stark angesprochen. Allerdings wird der Idealzustand, der Madame Guyon vorschwebt, nicht erreicht. Nicht nur in den Köpfen der Menschen, sondern auch in der Natur gibt es Wissen. Die Wissensbrücke zur Natur befähigt uns, Bewusstheit in den Dingen zu erleben. Bewusstsein und Bewusstheit sind damit beide Teile der Schöpfung Gottes. In der Konsequenz kann man sie reflektieren, aber auch spiegeln.
S. 23: „… den Weg des dunklen Glauben…“ Im vorgenannten Abschnitt verweist Madame Guyon nochmals auf die Diskrepanz zwischen der Ausstattung des Typus und dessen Realität als Identität. Im Weg des dunklen Glaubens spiegelt sich die Schwachheit dieser Menschen. Interessant an dieser Stelle ist der Bezug zum Bösen.
Die Aussagen von Madame Guyon zu einer entwickelten narzisstischen Persönlichkeit lassen kausale Zusammenhänge erkennen zwischen einer nach außen erfolgreichen Persönlichkeit im Hinblick auf den Missbrauch oder das Missbrauchspotential bezüglich der Verwendung der eigenen Fähigkeiten. Narzisstische Entwicklungen nehmen ihren Ursprung in der frühkindlichen Mutter-Kind-Beziehung. In der Mutter, im Kontakt und Umgang, findet das Kind die ersten Eindrücke von sich selbst. Die Mutter ist sozusagen der Spiegel des eigenen Verhaltens (mütterliches Mitleid). Aus dieser Symbiose Mutter und Kind entwickelt sich das Fundament der späteren Gesamtpersönlichkeit. Das hat sehr viel mit Grundhaltungen zu tun wie Vertrauen, Optimismus, Menschenliebe, dem Grad der persönlichen Zufriedenheit oder auch das Maß für Wohlbefinden allgemein.
Die „Noch-Einheit von Mutter- Kind“ ist im theologischen Sinne die Basis für das später so wichtige christliche Bild des Paradieses (Symbolik). Eine perfekt gelungene Beziehung führt zu einer gesunden Haltung und Entwicklung des eigenen Selbstbildes. Eine Fehlentwicklung bedeutet eine Steigerung hinein in eine bedenkliche Selbstbezogenheit. Über dieses Kriterium entsteht dann eine ernstzunehmende krankhafte Form des sog. Narzissmus. Passiert eine derart krankhafte Fehlentwicklung, dient diese Entwicklung dann der Abwehr unlustvoller und unlustbetonter Affekte und bildet gleichzeitig auch den Nährboden für die Entfaltung von „bösen Eigenschaften“. Dies kann man als eine allgemeine Entwicklungstendenz auffassen. Des Weiteren ergibt sich zusätzlich eine Affinität für eine Suchtentwicklung, die auf der Ebene der Persönlichkeitsentwicklung sich früh manifestieren und so ihr Potential entfalten kann.
In der alltäglichen Wirklichkeit haben die erziehenden Personen die Verantwortung für eine gelungene Erziehung. Sie müssen solche Risiken erkennen können und folgerichtig entsprechend gegensteuern. Die Vergeistigung von Bösem findet in den beschriebenen Konstellationen ihren Ursprung. Dies gilt auch für die Entwicklung einer erhöhten Sensibilität und Ansprechbarkeit für bestimmte andere Dinge, oft verallgemeinertes Negatives. Hier kann z. B. auch das Übel darin bestehen, dass jemand eigentlich Umweltbezogenes ständig auf sich selbst bezieht.
Solche Entwicklungen machen in besonderem Maße deutlich, wie wichtig sinnvolle Kompensation sein kann, die ja oft negativ dargestellt wird, und besonders als Quelle für Motivation kaum Anerkennung findet. Allerdings besteht aus Kompensationsverhalten eine weitere Gefahr, dass etwas misslingen kann.
Schade ist, wenn wie im vorliegenden Text S. 22 Personen sich für den persönlichen Rückzug entscheiden und letztlich einen gefährlichen Weg in die private
Einsamkeit begehen.
In der bisher dargestellten Lehre beschreibt Madame Guyon zwei relativ entgegengesetzte Typen. Zum Zwecke der Unterscheidung beschäftigt sie sich mit der Art und Weise, wie diese Menschen ihr Leben und ihren Lebensraum gestalten, welche Stellung sie in ihrem Leben eingenommen haben und wie ihr Verhältnis zur Umwelt ist. Ganz entschieden geht es ihr dabei aber auch darum, das Verhältnis zum christlichen Gott herauszuarbeiten und den Menschen in einem Gottesbezug zu betrachten.
Über die Symbolik des aktiven Lichtweges definiert sie einen eher meditativen Weg zur seelischen und psychischen Ganzheit, dem Selbst der jeweiligen Person. Die Gottesbeziehung, deren Stellenwert und Bedeutung aber, auch der Grad einer Veränderungschance sind hier Teil eines übergeordneten Selbst, das seine Bedeutung in der psychoanalytischen Ausrichtung gefunden hat.
Über den passiven Lichtweg wird der eher meditative Weg zu einer spirituellen Entwicklung dargestellt, aber hier als eine eher verselbständigte Einheit. Hier steht das eigentliche oder auch das alte religiöse Denken im Vordergrund. Ihr Weg der Veränderung oder des Heils will das gesamte Leben der Person neu ausrichten und dabei ein überpersönliches Ziel, nämlich das Leben in Gott, Realität werden lassen. Begrenzter erscheint die Zielformulierung für den Personenkreis des aktiven Lichtwegs. Hier steht das Ziel im Vordergrund, die Erfahrungswelt des Einzelnen positiv zu verändern. Dabei bleibt jemand angepasster in seinem unmittelbaren Lebensbezug. Gesellschaftlich hat dieser Weg eine ganz erhebliche Bedeutung. So erhalten Meditationen z. B. über das Gebet ihren Sinn und Wert als eine angewandte Psychotechnik. Trotz Veränderungsabsichten bleibt die Individualität stets im Vordergrund, besonders über den Aspekt der Befindlichkeit.
Im passiven Lichtweg gibt der Begriff des Spirituellen als Zieldimension Auskunft über anzustrebende Absichten. Hier stehen das Ewige und das Über-Individuelle (Gott) im Vordergrund. Die bisherige Beschreibung der beiden Wege lässt auch die Vermutung zu, dass Madame Guyon beide angesprochenen Dimensionen im Menschen vereint sieht. Über die jeweilige Persönlichkeitsstruktur regelt sich primär die Verbindung zu Gott und die Frage, wie sehr jemand im Glauben verankert ist oder künftig sein kann.
Auch er hat die Bedeutung des aktuellen persönlichen Zustandes und des Bewusstseins erkannt und hervorgehoben. Pessimistisch stellt sich sein Bild vom Menschen dar. Dieser erscheint ihm von Natur aus verdorben (Erbsünde) und nur mit Hilfe der göttlichen Gnade in der Lage, sich vom Bösen zu befreien. Damit wird das Böse allumfassend, d. h. der Mensch tut Böses um des Schadens willen.
Augustinus propagiert die dualistische Betrachtung des Menschen. Diese begründet sich in einer relativen Eigenständigkeit der Seele gegenüber dem Leib. Das wichtige am Materiellen erkennt er in ihrer zugrunde liegenden Struktur. Glaube und Wissen sind alles durchdringende Teile des Menschen (Kräfte). Gott hebt er hervor wegen seiner Unwiderstehlichkeit, den Menschen wegen der Unverdienbarkeit der göttlichen Gnade.
Augustinus ordnet dem Leib die Sterblichkeit, die Triebsteuerung und die Weltverfallenheit zu, das bedeutet also Abhängigkeiten. Der Seele sind zugeordnet die Eigenschaften der Unsterblichkeit, Vernunftorientierung, der Gottessuche und eine Jenseitsorientierung. Ursprünglich besitzt der Mensch die Willensfreiheit mit der Tendenz, sich dem Guten zuzuwenden. Orientiert der Mensch sich ohne Gott zum Guten hin, so wird er nach der Ansicht von Augustinus überheblich, d. h. er erhebt sich über sein Selbst. Damit wird seine Entscheidung zur Determination. Aus der Willensfreiheit schafft er die Begrenzung. Die Konsequenz daraus ist verheerend. Der Mensch wird triebgesteuert. Das bedeutet, der falsche Gebrauch der Willensfreiheit hebt die Willensfreiheit auf. Der Mensch schafft die Möglichkeit des Schlechten in ihm.
Durch das gnadenhafte Eingreifen Gottes kann er Triebhaftem widerstehen, aus eigener menschlicher Kraft ist dies nicht möglich. Die Evolution des Menschen ist demnach seine Heilsgeschichte.
In ihrer Lektüre stellt Madame Guyon Personen vor, die verschieden sind und in ihrem Bezug zur Gott ihre Individualität (persona) entwickelt haben. Problemzonen entstehen, wenn gelebte Frömmigkeit als Teil einer Lebensform bewertet werden soll. Hier spielt dann die Identität des Einzelnen eine ganz besondere Rolle. Unsere Identität entwickeln wir aus der Sozialisation heraus, d. h. in der Gemeinschaft mit anderen. Die gelebte Gläubigkeit bedeutet dahinein betrachtet auch eine Chance für jeden auf Veränderung und Erneuerung. Unsere Identität verrät das Wesen und das Wesentliche der Person. Die jeweilige Charakteristik berücksichtigt auch in gewisser Weise die Beziehung zum Christsein und ist in der Lehre Guyons ihr erstrebenswertes Ideal.
Der Begriff „persona“ umfasst das Maskenhafte des Einzelnen. Jede Person besteht aus der Summe von Verhaltensweisen, Eigenschaften, Ansichten und Reaktionsweisen, die wir im Leben erworben haben. Damit wird unsere Persönlichkeit aber noch nicht preisgegeben. Ganz im Gegenteil, die so erworbene „Seelenmaske“ dient uns als Fassade, hinter der sich das eigentliche Wesen versteckt (analytische Perspektive).
Im 17. Jhd. verbreitet sich zunehmend eine Weltsicht, die außerhalb des Religiösen ihren Platz einnimmt. Staaten ordnen sich und übernehmen so in ihrer Darstellung die Funktion eines irdischen Gottes. Rationales, vernünftiges Denken tritt gleichwertig an die Stelle göttlicher Einsetzung. Humane Verfassungsstaaten behalten jedoch den Glauben im Blickfeld. Das sog. Naturrecht verkörpert das Göttliche. Daran orientiert sich auch die katholische Kirche in ihrer theologischen Lehre. Heftig diskutiert wird die Rolle Gottes in einer sich entwickelnden Welt. Dieser verkörpert nicht nur alles Belebte, sondern wird nunmehr auch in der Materie durch Geistvolles erkannt.
Madame Guyon würde heute als Muster einer spirituell ausgerichteten Persönlichkeit dastehen. Spiritualität hebt in besonderem Maße die geistige Orientierung hervor, vor allem als Lebensform. Sie identifiziert das Leben aus und im Geiste Gottes, als Mystikerin ein Selbstverständnis. Zu ihrem persönlichen Leid damals wurde der Vergleich christlich-geistliche Weltsicht im Hinblick auf ein aufkeimendes rationales Reflexionsbewusstsein.
Die geistige Ebene, die Madame Guyon anspricht in ihrer Lehre ist auch subjektiv erfahrbar. Ihrer Ansicht nach kann jeder Gläubige über die wahrhafte Gläubigkeit diesen inneren Zustand erreichen, der dann von Herzen kommt (Kontemplation). Dadurch spricht sie nicht von einer Ideologie. Sie sieht den Weg einer gelebten Frömmigkeit als einen Heilsweg, als ein Angebot Gottes an, Heilung im theologischen Sinne, aber auch in Korrespondenz mit unserer Psyche und damit unserer Seele. Tiefe religiöse Erlebnisse und Erfahrungen sind ihrer Auffassung nach keine Projektionen, entspringen damit also nicht dem menschlichen Gehirn. Als Mystikerin definiert sie solche Erfahrungen als Gegenstand tiefer Erkenntnis. Diese Erfahrungen werden so Realität und beziehen sich auch hinter der Natur liegende Erscheinungen, das bedeutet wiederum auf Gott. Erfahren wird real Vorhandenes. Leben wir so in Gott, leben wir auch im Einklang mit der Ordnung der Natur (Schöpfergott). Dies persönlich so zu erfahren ist Gegenstand unserer Intuition.
Den vorgetragenen Ansichten Madame Guyons kann man entnehmen, dass auch bei ihr die realistische Auffassung präsent ist, dass es den Menschen nicht gegeben ist, sich grundlegend zu verändern. Es erscheint damit auch unmöglich, dass jemand aus sich selbst heraus Vergleichbares entwickeln kann. In jedem Falle ist erforderlich, dass mögliche Veränderungsabsichten langfristig angelegt sein müssen (seelsorgerische Begleitung). In der von ihr benutzten Symbolsprache kann eine eingestürzte Felswand den Lauf des Wassers umlenken, ebenso können neue Formen der Ufer entstehen, in jedem Falle aber folgt der Fluss unaufhaltsam dem Zug der Gravitation, also vom Gebirge zum Meer hin. Über die Natur ist keine grundlegende Veränderung der Richtung seines Fließens erreichbar. Was aber geht ist eine Veränderung der Intensität des Fließens und diese kann auch im Einklang mit der Natur betrachtet werden, sogar von dieser gewollt sein. Über den Aspekt der Richtung bleibt dem Mensch damit seine Identität auf Dauer erhalten. Das bedeutet auch, jemand kann sich selbst gegenüber nicht fremd werden. Die Identität der Person beschreibt das Markante in ihr, den sog. Grundtypus.
Für die Übertragungsmöglichkeit in ein psychologisches Arbeitsfeld hinein ist zunächst interessant zu betrachten, in welche Ausrichtung Madame Guyons Ansichten hineininterpretiert werden können. Hier kann man dem bekannten analytischen Denken Vorrang einräumen. Die so herausgestellte Einseitigkeit des jeweiligen Grundtypus drängt naturgemäß auf Kompensation dieser Einseitigkeit. Ein natürlicher Vorgang, der sich aus sich selbst heraus versteht. Das bedeutet, der Vorgang ist als eine biologische Selbstschutzmaßnahme des Organismus aufzufassen, der notwendig wird, um sein seelisches Gleichgewicht zu erhalten (Relevanz für die Theologie in der Lehre Madame Guyons). Im überwiegend theologischen Grundverständnis entstehen so sekundäre Persönlichkeitsmerkmale, die in der Denkwelt von Madame Guyon den Gottesbezug als primäre Eigenschaften zugrunde legen lassen.
In einem psychologisch-therapeutischen Grundverständnis spielen die herausgearbeiteten Charaktereigenschaften wegen ihrer Starrheit keine ausschlaggebende Rolle, wohl aber der Aspekt der Intensität, also das Erleben, der innere Zustand. Dieser kann damit für Veränderungsabsichten nutzbar gemacht werden. Das Bewusstsein wird zum Medium nicht für Erkenntnis, sondern auch für Veränderung. Ein geeigneter Ansprechpartner kann jetzt Änderungspläne machen, die in der Gegenwart das Hier und Jetzt verändern. Damit ist natürlich auch die Hoffnung verbunden, dass langfristig Änderungen manifest werden.
Beleuchtet man diesen Zeitabschnitt im Nachhinein, so fällt auf, dass das interessante Neue in einer neuen Vielfalt an Möglichkeiten liegt.
Politisch betrachtet ist das 17. Jhd. das Zeitalter des Absolutismus mit der Prägung des Begriffs „Souverän“ gelingt Bodin, eine gottgewollte Macht auf Erden zu definieren und spricht diese dem absoluten Fürsten zu. Den Geist dieses Denkens spricht Ludwig XIV. aus: „Ein König, ein Glaube, ein Gesetz.“ Über die konstitutionelle Monarchie und die US-Verfassung werden gleichzeitig aber auch die Freiheitsrechte der Bürger gestärkt. Der Merkantilismus sorgt für eine erste ernstzunehmende Struktur einer Wirtschaftsordnung in den Gesellschaften. Philosophisch gilt das 17. Jhd. als das Zeitalter der Vernunft. Damit rückt das Rationale, das wissenschaftliche Denken, in den Vordergrund. Das 17. Jhd. ist auch die Phase zahlreicher Entdeckungen und markiert in besonderem Maße eine konstruktive Zeitenwende.
Berücksichtigt man das Zeitgeschehen ist die Leistung Madame Guyons außergewöhnlich und bewundernswert, aber auch wagemutig. Ihre Lehre und ihr Denken wollten den laufenden Säkularisierungsprozess in der Gesellschaft verändern. Ihre Arbeit ist ein Plädoyer für eine Lebensform in tiefer Gläubigkeit.
Die von ihr bestimmte Symbolik der Flüsse, Seen, des Wassers und des Meeres vereint auch die philosophisch-psychologische Sichtweise der Dinge mit der theologischen Sichtweise einschließlich der im Umbruch befindlichen Gesellschaftssoziologie. Die Besonderheit der Lehre Guyons liegt ganz entschieden in der Qualität ihres Denkens ihrer Sicht der Dinge. Leben an sich ist für sie keine Substanz, auch keine Kraft oder Energieform. Der Geist ist kein Ding. In der Symbolik des Wassers definiert sie Leben und Geist als Manifestation einer in stetigem Fließen befindlichen Selbstorganisation. Diese benötigt Bewegung und Wandlung für die Selbstwirksamkeit. Sie erklärt dies über die Wassermenge der jeweiligen Flüsse. Ein Fluss kann strömend-reißend fließen, er kann dem Versiegen nahe sein oder auch einfach nur wenig Wasser führen. Die Wassermenge symbolisiert den Spannungsgehalt für die Bewegung, Wandlung und damit für die Veränderung, die benötigt wird. Die jeweilige Wassersituation selbst sorgt für eine Neutralität, d. h. Bewusstsein, und wird damit idealer Ausgangspunkt für Veränderungen, das bedeutet deren Medium. Der Grad der Spannung ist für das Individuum unerlässlich, um Veränderungen bewirken zu können.
Wasser entspringt einer Quelle, d. h. wo komme ich her? Flüsse münden ins Meer, d. h. wo gehe ich hin? Im Meer findet die Verschmelzung statt, alles wird eins (Gott). Langsam fließendes Wasser verweist auf den Faktor Zeit, manche benötigen viel Zeit. Fließen ist auch Rhythmus. Rhythmus bedeutet Gliederung der Zeit in sinnlich fassbare Teile. Eine wichtige Aufgabe im psychologisch sinnvoll geführten Gespräch solche Teile zu entschlüsseln. Im Rhythmus betet auch der Gläubige. Er ist ein aktives und aktivierendes Element. In einer Musiktherapie ist der Klang das ruhende Element. Zur Entfaltung braucht er Raum und Begrenzung. Er verkörpert das Bewahrende, das Empfangsbereite im Individuum.
Eine Einschätzung der Persönlichkeit über die Symbolik des Wassers: in Anlehnung an die Gedanken von Mircea Eliade und im Hinblick auf den darin enthaltenen Bezug zur Bibel erscheint folgende Entschlüsselung sinnvoll:
Das Wasser symbolisiert die Summe aller Möglichkeiten. Es ist das Reservoir aller denkbaren Möglichkeiten der Existenz. Das Wasser war vor der Schöpfung der Erde vorhanden. Inseln und Gebirge ragen als Akt der Schöpfung aus dem Wasser heraus. Damit wird Raum für menschliches Leben möglich gemacht. Wasser geht jeder Form voraus und hat selbst keine. Auftauchen aus dem Wasser, aber auch die Gebilde auf der Oberfläche symbolisieren den Aspekt zur Form bindend zu werden. Abtauchen ins Wasser steht für den Tod des Individuellen. Tod kann Wiedergeburt bedeuten, eingehen in ein Leben im Jenseits oder eben auch für Regeneration stehen. Durch die Auflösung einer Form wird Platz für Neues geschaffen. Das kann Neugeburt sein oder Neuschöpfung. Allgemein bedeutet das, dass Reintegration möglich gemacht wird.
Wasser verfügt über Kraft und ist auch eine zerstörerische Kraft. Im religiösen Sinne desintegriert Wasser und hebt die Sünde auf. Es reinigt und regeneriert zugleich. Es ist offensichtlich die Bestimmung des Wassers, der Schöpfung vorauszugehen und sie wieder zu sich zu nehmen. Damit wird Wasser eine Metapher für das Selbst, das auch das Unbewusste im Menschen berücksichtigt. Wasser bleibt immer konstant formlos. Menschliches Leben spielt sich grundsätzlich oberhalb des Wassers ab, es wird dann formlos, wenn es sich mit Wasser verbindet.
In ihrer Lektüre „Die geistlichen Ströme“ geht sie in ihrer Vorbemerkung kurz darauf ein:
Ähnlich wie im Katechismus der katholischen Kirche dargelegt, sieht sie den Lebensweg eines jeden als eine Danksagung an den Schöpfergott. In freier Entscheidung widmet der Mensch sein Leben in Liebe einem stets liebenden Gott. Das zu verinnerlichen bedeutet in ihrer Sprache „in Christus sein“. Über die Erbsünde wurde der Mensch zu einem Mängelwesen. Tief verankert in ihm ist die Neigung zur Sünde. Ausgehend von diesem Zustand gestaltet der Mensch individuell seinen Lebensweg. Gemäß dem Plan Gottes ist er zu einem Leben in Gemeinschaft erschaffen. Die Gemeinschaft verheißt ihm Glück und damit Teilhabe in Gott. Aus der Tendenz zum Glücklich sein entsteht das Verlangen, das ebenfalls von Madame Guyon angesprochen wird. Realisiert der Einzelne „ein Leben in Christus“ zu führen, begleitet ihn die Sehnsucht als endliches Wesen im Hinblick auf die mögliche Auferstehung und damit die Erlösung im Unendlichen.
Betrachtet man an dieser Stelle Madame Guyons Lehre tiefer als bisher, kann man eine Verbindung zum asiatisch-philosophischen Denken herstellen (Wang Bi chinesische Philosophie). Wie in unserer westlichen Welt geht es hier im Besonderen um die so wichtige Frage von Sein und Nichtsein. In Wang Bis Gedankenwelt verkörpert das Sein das Leben an sich. Was aber das Sein beginnen lässt, hat das Nichtsein als Wurzel. Will der Mensch also sein Sein vollenden, so muss er zurückkehren zum Nichtsein. Hier wird eine deutliche Nähe zum Christentum dargestellt (Madame Guyon). Das Nichtsein ist damit dem Sein vorrangig. Das wesentliche des Nichtseins ergibt sich aus der einfachen Frage nach seiner Brauchbarkeit. So schafft es die Voraussetzung für ein Sein, das über den Nutzen blüht. Die Balance zwischen Nichtsein und Sein ergibt sich aus diesem komplementären Verhältnis.
Die Denkwelt Madame Guyons und ihre Lehre vereinen auf konstruktive Weise philosophisches und theologisches Denken. Das Wasser symbolisiert das philosophische Nichtsein dergestalt, dass diesem Faktum nichts gegenübergestellt ist. Das Nichtsein trägt das Sein potentiell in sich. Nichtsein bedeutet dadurch Allqualität, d. h. eigentlich keine Qualität. Es kann nichts verwirklichen und bietet dadurch die Möglichkeit zu allen Verwirklichungen.
Indem man so über das Nichtsein sprechen kann, verleiht man ihm den Status des Seins. In der Lehre Wang Bis wird dies als „keimwunderhaft“ bezeichnet. In der christlich-mystischen Denkwelt von Madame Guyon kommen Gott und die Seele jetzt zum Tragen, die Lehre Wang Bis mit dem „keimwunderhaften Sein“ meint das „Sein im Nichtsein“. Madame Guyon geht den Schritt weiter und setzt nun Gott als göttliche Instanz ein. Gemeinsam mit der Seele entsteht jetzt bei ihr ein Mechanismus, der alles weitere erklären soll. Hierbei ist zunächst der Wille zu beachten. An Jesus orientiert gibt es den göttlichen und den menschlichen Willen. Der menschliche Wille ist dabei dem göttlichen Willen untergeordnet. Weitere Entscheidungsträger des Menschen sind die Vernunft und der Verstand.
Glaubensbasis und die Glaubenslandschaft insgesamt änderten sich deutlich im 17. Jhd. So wurde das bloße Licht der Vernunft nach christlicher Auffassung zum Allgemeingut hin verändert. Die Menschen waren angehalten, sich nunmehr am natürlichen Licht der Vernunft zu orientieren und damit über die persönliche Stellung zu Gott hin hinausentwickelt. Das angenommene übernatürliche Licht verliert außerhalb der Theologie seine Relevanz. Der Glaube muss sich nunmehr vor dem natürlichen Licht der Ratio rechtfertigen, nicht mehr umgekehrt. Für die Menschen realisierte sich damit eine pragmatische Entwicklung, weil der natürliche Instinkt eines jeden damit auf eine akzeptable Stufe angehoben wurde.
Für religiöse Schwärmerei, die ja auch zu Madame Guyon gehört, bleibt aber dennoch genügend Platz übrig. Christliche Offenbarungen sind auch weiterhin legitime Quellen von Erkenntnis.
Jeder Glaubensakt ist ein menschlicher Akt, d. h. ein Akt des menschlichen Verstandes. Der
christlich-katholische Glaube verweist in diesem Zusammenhang auf den von Gott bewegten Willen, der als freier Wille freiwillig in Bewegung gerät. Das bezieht sich auf das Hören des Wort Gottes,
das Beten und das Zulassen gelebter christlicher Liebe. Auch Jesus hat aus der Erfahrung gelernt und über den Verstand Kenntnis seines Vaters erlangt.
Schon zu Beginn des Textes grenzt Madame Guyon ihr Ideal des menschlich Erreichbaren ein. Wie die Symbolik des Nachtweges vermuten lässt, wird eine Lösung über die Realisierung der Sehnsucht des Menschen erreicht. Durch die Gnade Gottes kann jeder zur Seligkeit finden. Seligkeit im christlichen Glauben bedeutet Glück ohne Ende. Dies entspricht nach herrschender theologischer Ansicht dem tiefen Verlangen eines jeden. Über sein Handeln kann der Mensch dieses Ziel verfolgen. Die Frage des Gelingens bleibt nach Glaubensansicht im Christentum Gott überlassen. Die Seligkeit ist ein übernatürliches, ungeschuldetes Geschenk des christlichen Gottes. Trotzdem kann sie über den Lebensweg des Einzelnen, der in Liebe, tiefem Glauben und anspruchsvollen sittlichen und moralischen Verhaltensweisen zu gestalten ist, beeinflusst werden.
Für uns ist interessant, den inneren Zustand zu erfassen, der ja im aktiven Leben selbst die persönliche Glückseligkeit bedeutet und erlebbar macht. Ständiger Wegbegleiter dabei ist die Hoffnung. Hoffnung darauf, das jeweils richtige zu tun und zu unterlassen. Hauptmerkmal für den Christen ist dabei seine Stellung in der Gesellschaft, in Familie und nahem Umfeld. Aus der Nächstenliebe, die gefordert ist, ergibt sich der gemeine Nutzen für und durch jeden. Dies zu erkennen und in Überzeugung für die Sinnhaftigkeit zu praktizieren, vermittelt den inneren Zustand, auf den es ankommt. Glücksgefühle in innerer Zufriedenheit, die sich aus der Balance von Ich und Selbst ergeben, prägen das Beibehalten von Persönlichkeitseigenschaften, die in christlichen Gesellschaften Anpassung bedeuten und wertgeschätzt werden.
1. Der Aspekt, dass auf dieser Erde alles zur Form bindend werden muss, betont dieses Muss. Ein Muss impliziert die Bewegungen des Verlangens und/oder des Drangs. Damit entsteht ein Suchtpotential aus dem Reservoir an Potential, d. h. in der Lebenswirklichkeit aus der Anlage eines jeden Menschen heraus.
Damit entsteht aber auch die Basis für das Vorhandensein oder die Bildung sog. Strukturen.
Im Wasser sein bedeutet auch Abtauchen zum Regenerieren oder auch Neues hervorbringen, entwickelt jeweils aus den eigenen Möglichkeiten heraus. Der Mensch ist damit von seiner Grundanlage jemand, der sich als Wesen auch ändern kann. In unserer Lebenswirklichkeit trifft jedoch jede Veränderung unweigerlich auf eine Umwelt. Damit entsteht auch eine besondere Essenz für das so wichtige Kriterium einer Veränderung, nämlich die Akzeptanz aus der Umwelt zu erhalten.
2. Jeder Mensch verfügt potentiell über die Möglichkeit, sich selbst zu zerstören. Damit wird im religiösen Sinne die Sünde eliminiert, im weltlichen Verständnis versagt der sog. Selbsterhaltungstrieb im Menschen. Jede Abkehr von dessen Grundform führt unweigerlich zu einer diffusen physiologischen Erregung. Jede Erregung ist an sich neutral. Sie enthält erst im Blickfeld einer Emotion ihre Bedeutung. Trotzdem hinterlässt menschliche Erregung ihre Spuren und wird als diffuses Ereignis oft Bestandteil von Angst. Automatisch in Gang gesetzt wird dann vom Organismus ein ausgleichender regulatorischer Mechanismus, der ein akzeptables Gleichgewicht zum Ziel hat. Jedes bekannte Suchtmittel, insbesondere die Substanziellen, wirken hier erfolgreich ein und entfalten ihre fatalen Möglichkeiten (Homöostase-Prinzip).
Diffuse Zustände bilden eine weitere Struktur.
3. Der Konflikt aus dem Gemeinschaftsgefühl und der Endlichkeit als feststehender Erkenntnis: sichert die
Gemeinschaft eines jeden seine Glückseligkeit, bietet diese in aller Regel jedoch dem Menschen nicht die nötige Sicherheit, die er braucht (Gesellschaftssoziologie). Gesichert kann ihm diese nur
der Glaube an einen Gott einbringen. Über den natürlichen Mechanismus des Zweifels entsteht aus dem Individuum selbst die Unsicherheit, die dann meist durch Verdrängung bewältigt werden muss oder
auch durch anderweitige Kompensationen. Jede bewusstseinserweiternde Substanz besitzt die Kraft, eine so hervorgerufene tiefsitzende Einsamkeit zu kaschieren und trägt damit zu einer Handhabung
wesentlich bei. Vorgenannte Konstellation bildet die dritte Grundlage für die Bildung einer Struktur.
In Madame Guyons Lehre erhält die freiwillige Willensleistung des Menschen einen besonderen Stellenwert. Sie
folgt dem sog. ethischen Voluntarismus. Ethische Triebfeder des Handelns ist dann die Eigenliebe, die das menschliche Streben nach Selbsterhalt bestimmt. Merkmale von Vernunft diktieren nicht den
Willensakt, ebenso wenig wie die Frage nach Gut oder Schlecht. Es zählt die Absicht, das menschliche Wollen. In Kombination mit dem theologischen Voluntarismus steht in einer Hierarchie an erster
Stelle der göttliche Wille. Außerdem haben Glaubensaspekte Vorrang vor intellektuellen Entscheidungen. Auf S. 26 offenbart sie spezifische Merkmale der dritten Persönlichkeit. Hier steht die
Begierde im Vordergrund. Stellt Platon die Begierde als unbeherrschtes Begehren dem vernünftigen Wollen gegenüber, so stellt Madame Guyon dasselbe unbeherrschte Begehren der absichtlichen Hingabe
an den christlichen Gott gegenüber und legitimiert dies ausschließlich. Nach Madame Guyons Auffassung bekommt so der legitime Wunsch des Menschen eine Ausdrucksform. Legitimes Verlangen kann
konstruktiv ausagiert werden. Dies führt dann zu einer großartigen Befriedigung des Einzelnen. Ein erkennbares Unbefriedigt Sein auf dieser Stufe einer Entwicklung würde ebenfalls eine
psychologische Struktur darstellen.
Schon zu Beginn ihrer Beschreibung des Nachtweges greift Madame Guyon das so wichtige Thema der Angst bzw. Furcht auf. Angst gehört unvermeidlich zum menschlichen Leben dazu. In immer neuen Abwandlungen als Anpassungsleistung auch an moderne Entwicklungen begleitet sie uns von Geburt an bis zum Tod. Das heißt nicht, dass wir uns dauernd ihrer bewusst wären. Sie kann aber jeden Augenblick ins Bewusstsein treten, wann immer sie herausprovoziert wird. Durch unser eigenes Handeln inszenieren wir unsere Angst auch selbst. Sie wendet sich gegen uns und besitzt die Fähigkeit, eine zerstörerische Kraft zu werden. Angst hat immer einen Doppelaspekt, sie lässt uns aktiv werden und sie kann uns lähmen. Angst ist immer ein Signal. Sie hat einen Aufforderungscharakter, nämlich den Impuls, sie zu überwinden.
Nach Auffassung von Madame Guyon bleibt das Wesen des Menschen immer gleich. Weil er aber seine „Beschaffenheit“ ändern kann, kann er Lösungen für die innewohnende Angst entwickeln. Dies ist auch eine gottgewollte Aufgabe, eine Verpflichtung über die Lebensspanne hinweg. Überwindet jemand seine Ängste, so kann er sich erst dann für Gott öffnen. Der Glaube ist Angst erzeugend, kann aber auch für Angstüberwindung Verwendung finden (Paradox).
Die Gedanken, die Fritz Riemann später äußert, hat Madame Guyon vermutlich schon in ihrer Zeit vorgedacht. Eine erste Antinomie: wir sollen sowohl die Selbstbewahrung und die Selbstverwirklichung leben als auch die Selbsthingabe und Selbstvergessenheit. Sollen zugleich die Angst vor der Ich-Aufgabe wie auch die Angst vor der Ich-Werdung überwinden.
Auf S. 28 verweist Madame Guyon auf die Einheit der Ruhe. Eine Metapher für den inneren Zustand und später für die Bedeutung der Gegenwartsbezogenheit.
Die Seelenaktivität erklärt sie über die Feuersymbolik. Die Seele wirkt ihrer Meinung nach durch eine Kraft, die von Gott ausgeht. Feuer entfaltet ihrer Auffassung nach so eine Wirkkraft, die – folgt man Riemann – mit der Schwerkraft vergleichbar ist. Diese hält die Welt zusammen, richtet sich zentripetal nach innen zur Mitte hin und hat einen vereinnahmenden, anziehenden Sog. Die Fliehkraft strebt zentrifugal nach außen, sie hat einen ablösenden Zug. Weitere Kräfte ergeben sich aus der Eigendrehung der Erde und aus dem Rhythmus des um die Sonne Kreisens.
Dieses System verhindert eine Eigengesetzlichkeit der Erde und macht sie so zum Teil des Kosmos, also des Ganzen.
In unserer Seele sind die Grundimpulse vereint, die für unser Überleben von Bedeutung sind. Durch unser Bewusstsein können wir das jeweils aktuelle Ergebnis erleben, eine aktuelle Zustandsbeschreibung. Kümmern wir uns um Veränderung, muss das Ausmaß spürbar sein. Erreichen wir nach Madame Guyon ihren Idealzustand, so sind wir gläubig und leben in großer Ruhe und Ausgeglichenheit, sind glücklich und können diesen Zustand dankbar genießen. Im Christentum gilt der christliche Gott als vollkommen und glücklich. Im Glaubensverständnis von Madame Guyon bietet uns Gott schon zu Lebzeiten auf dieser Erde die Möglichkeit der Teilhabe an diesem glücklichen Zustand. Das Wahrnehmen von Glück ist natürlich subjektiv, gleichzeitig aber auch Teilhabe am Glück der Gemeinschaft, dem Wohl aller.
Nach Madame Guyon ist der Drang des Menschen zu sündigen der Grund, der vor allem anderen das irdische Glück für die meisten Menschen zunichtemacht. Dem
Glaubensbekenntnis nach ist auch der schlimmste Sünder dazu berufen umzukehren und die unendliche Barmherzigkeit Gottes anzunehmen. Wer in Demut bereuen kann, bejaht sein Leben. Nach Madame sind
solche Menschen viel leichter zu verändern als diejenigen, die objektiv betrachtet zwar nicht sündigen, aber Eigenschaften zeigen, die schwer änderungsresistent sind und jeder selber wissen muss,
ob eine Änderung überhaupt notwendig wird. Auch an dieser Stelle wird deutlich, wie wichtig die Einschätzung des inneren Zustandes für Veränderungen wird (Leidensdruck).
Nachdem Madame Guyon Grundsätzliches zum Nachtweg erörtert hat, beginnt sie unter der Überschrift „Gott im Herzensgrund“ die dritte Persönlichkeit näher zu definieren. Für die Aufgabenstellung ist dabei interessant, den jeweils erreichten inneren Zustand in den Vordergrund zu stellen, der ja in der anschließenden Betrachtung verändert werden soll. Hier werden dann geeignete Maßnahmen mit den nötigen Mitteln vorgestellt.
Fundament der Betrachtung ist das Thema Angst, aus deren Perspektive der folgende Text entschlüsselt wird. Gemeint sind hier Faktoren der Entstehung von Angst, Arten der Angst, deren Niederschlag im Bewusstsein, Angstbekämpfung ebenso wie die Verarbeitung der Angst und deren Stellung im weiteren Lebensweg eines davon Betroffenen.
Madame Guyon betrachtet zunächst die Kindheit, in der die Angst entsteht und sich aufbaut zum individuellen Maß (Ferne). Kennzeichnend ist der Zustand der inneren Unruhe, die ganz entschieden aus Unkenntnis zustande kommt, vor allem was den Grund betrifft. Die gelernt Art zu leben löst keineswegs ein Problem. Kann jemand seine Angst annehmen, sie sogar meistern, bedeutet dies einen Entwicklungsschritt in die richtige Richtung und lässt diesen Jemand ein Stück weiter reifen. Ausweichen vor der Angst und vor der Auseinandersetzung mit ihr lässt uns alle nur stagnieren. Die weitere Entwicklung wird gehemmt und lässt den Menschen dort kindlich bleiben, wo wir die Angstschranke nicht überwinden können.
Angst manifestiert sich im Bewusstsein an besonders wichtigen Stellen unserer Entwicklung. Da wo alle vertrauten Bahnen verlassen werden müssen, wo neue Aufgaben zu bewältigen oder Wandlungen fällig sind. In S. 33 wird die Einsamkeit angesprochen, die dadurch zustande kommt, dass wir erkennen, ein einmaliges Individuum zu sein, das sich von allem anderen unterscheidet. Angst entsteht in der Sorge aus der Gemeinschaft herauszufallen und in der damit verbundenen Konsequenz ein Stück Geborgenheit aufgeben zu müssen. Auf S. 34 bedient sich Gott in der Sprache von Madame der Methode der Beschämung. Scham verschärft und verstärkt vor allem die Selbstkritik. Sie führt damit zu einer erhöhten Bewusstheit (Zuchtmittel Gottes). Scham erhöht die Sensibilität des Individuums für Hinweisreize jeder Art. Aber auch die Scham verlangt nach Überwindung. Gelingt diese, verläuft die weitere Sozialisation positiv. Scham fördert damit Mitgefühl und Hilfsbereitschaft. Auch die Fähigkeit sich selbst zu helfen, wird angesprochen. Überwinden von Scham bzw. einen Umgang damit finden, bedeutet ein Stück Identität erkennen. Auf S. 35 schildert Madame Guyon die Überwindung der Scham als euphorisches Hochgefühl. Im Hochgefühl wendet sich der Mensch dann gegen seinen Gott und so gegen sich selbst. Schuldgefühle entstehen, das Gewissen meldet sich, insgesamt eine diffuse Gefühlslandschaft entsteht über ein Hin- und Hergerissen Sein zwischen den Gefühlswelten. Ein derartiger Zustand kann prägend für die weitere Entwicklung sein und bildet daher eine Struktur in der Abhängigkeitsproblematik.
Auf S. 36 geht Madame Guyon auf die religiöse Bedeutung des vorgenannten Zustandes ein, wenn jemand sich dort eingerichtet hat. Entwicklungsmäßig bedeutet das Stillstand. Die weitere Entwicklung würde durch die rosarote Brille betrachtet werden und bedeutet dann ein Anhaften. Über Gewöhnungsfaktoren tritt die bekannte abfallende Wirksamkeit ein, in jedem Falle bleibt ein größeres Maß an Selbsttäuschung übrig.
In dem Abschnitt „Die Verwöhnung“ thematisiert Madame Guyon den introvertierten, nach innen ausgerichteten Menschen. Die dazu passende Lebensform begünstigt ihre Darstellung einer geeigneten religiösen Weiterentwicklung. Diese hält sich hiernach in Grenzen. Der introvertierte Typus ist weniger handlungsaktiv. Seine Fähigkeit zur Selbstreflexion bestimmt sein Leben. Damit verbunden sind meist Neigungen zu spekulativem Verhalten, Phantasieren, Träumen, aber auch zu einem hohen transzendentalen Verständnis.
Subjektive Faktoren dominieren die Persönlichkeit. Die glaubensmäßige, planmäßige Entwicklung einer so charakterisierten Person ist begrenzt. Der Introvertierte verfällt dem Vorgang, vom Ideellen zum Bildhaften überzuwechseln. Nach Auffassung von C. G. Jung bildet die Person viele Anschauungen aus, verliert aber oftmals den Bezug zur Wirklichkeit. Der Introvertierte denkt sich selbst ins Undenkbare. Zynisch formuliert wird sein Denken dadurch mystisch (S. 37). Introversion bedeutet auch eine biologische Vorgabe der Energiesteuerung und -verwendung. Derartige Menschen verfügen über ein leicht erregbares Nervensystem, das sie sensibler reagieren lässt. In jedem Falle sind sie auch ängstlicher als andere Konstitutionen.
In den beiden Kapiteln hebt Madame Guyon die Angst in ihrer Grundform hervor. Dabei geht es zunächst um die psychologisch sinnvolle Forderung nach Individuation, d. h. auch einer Entwicklung zum Einzelwesen. Gleichzeitig geht es aber auch um die Entwicklung in ein übergeordnetes Ganzes, die Gemeinschaft. Damit entsteht folgende angsterzeugende Antinomie: wir sind verpflichtet ein Selbst zu entwickeln, aber gleichzeitig auch vorgesehen, uns in überindividuelle Zusammenhänge einzufügen. Jede Entwicklungslinie ist damit geprägt von Merkmalen der Angst. Schon sehr früh in unserer Entwicklung fallen wir über das Bewusstwerden der eigenen Person (Identität) aus der Geborgenheit des Dazugehörens heraus (Mutter-Kind-Symbiose). Die erlebte Einsamkeit führt zu Unsicherheit und einer ersten Angst, die in unserem Bewusstsein dauerhaft Spuren hinterlässt. Aus dieser Isolierung heraus. Sollen wir uns den Mitmenschen vertrauend öffnen und uns auf sie einlassen. Eine erste tiefgreifende Abhängigkeit wird erlebbar. Die damit verbundene Angst entsteht aus der Befürchtung einerseits unser Eigensein nicht angemessen leben zu können, andererseits vor dem Risiko zu stehen, über eine notwendige Anpassung die Tendenz zur Selbstverwirklichung zu verlieren und in einer Gemeinschaft unterzugehen. Die Angst vor der sog. Ich-Werdung vermischt sich mit der Angst vor der Ich-Aufgabe.
(S. 47). In diesem Textabschnitt greift Madame Guyon als erstes die Schicksalsergebenheit des zuvor als introvertiert charakterisierten Typus auf. „Der Verlust der Stille“ bedeutet die Auflösung des eingerichtet Seins in ein selbst aufgestelltes Regelwerk. Das „Dein Wille geschehe“ kann für viele Menschen eine große Kraft bedeuten. Jemand entwickelt so eine das Schicksal hinnehmende Einstellung, die ihre Bedeutung auch um ihrer selbst willen entfaltet, um so eine Lösung für den Umgang mit Schuldfragen bereit zu haben. Ganz im Sinne des Glaubens ist dieser Jemand gerne zur Sühne bereit. Sein Lebensstil fällt entsprechend aus: Entsagung, Verzicht, Opfer und Askese liegen ihm, können aber zu einem Mittel werden, sich der Welt und der Auseinandersetzung mit ihr zu entziehen.
Madames erster Verlust (S. 47) ist das Aufbrechen dieser Eigenschaft. Es geht darum, Gottes Willen zu folgen oder auch die Eigenverantwortung zu erkennen. Wirkliche Demut bedarf eines richtigen Grundverständnisses.
Hier meint Madame Guyon die natürliche Begabung eines Menschen (Ausstattung oder Beschaffenheit). Diese ist zunächst auf sich selbst zentriert. Vordergründig gemeint sind die Grundeigenschaften des Menschen, seine Selbstliebe und sein Selbsterhaltungstrieb. Diese teilt er mit allen Lebewesen. Daraus ergibt sich sein Sinn fürs Leben, gemeinsam mit einer Hinwendung zum christlichen Gott. Um sein Leben zu sichern, brauchen wir die Gemeinschaft. Sie ist für den Einzelnen nötig, um dem Grunde nach gerettet zu werden. Als geselliges Wesen benötigt der Mensch die Vergesellschaftung, als geistiges Wesen (Seele) Gott, so dass wir auf der geistigen Ebene auch den Retter Gott benötigen. Die Hilfsbedürftigkeit und die Hilflosigkeit, die zum Menschsein gehört, wird ergänzt über die Fähigkeit, anderen zu helfen und beizustehen. Beides sind Seiten der natürlichen Beschaffenheit des Menschen.
Stürzen wir uns nach Madame Guyon in die Tiefe, kommt die Ursünde ins Spiel. Durch unsere Verdorbenheit haben wir die Idee von Wahrheit, Glück oder Seligkeit entwickeln müssen. In der christlichen Denkweise tief verankert ist die Vererbung der Sünde, die Akzeptanz macht erforderlich, dass wir Kenntnis über uns selbst erlangen. Die Sünde des ersten Menschen hat alle schuldig gemacht. Die Teilhabe daran lässt uns letztendlich unfähig erscheinen. Die Konsequenz daraus empfinden wir als ungerecht. Wir sind insofern gezwungen, über Gegensätzliches Lösungen zu entwickeln, weil ja nach christlicher Ansicht Gerechtigkeit und Nächstenliebe gelebt werden sollen. Durch den Sündenfall sind wir von Gott abgefallen. Christus kann uns von diesem Zustand erlösen, auch so wird Gegensätzliches zum brauchbaren Lösungsweg.
Auf die Gefahr der Selbsttäuschung geht Madame ab S. 48 ein. Die Sehnsucht nach Dauer und Geborgenheit steht in Konflikt mit der immer wieder durchdringenden Erkenntnis über unsere Vergänglichkeit. Der so geschaffene diffuse Zustand löst Ängste aus, für die Lösungen entwickelt werden müssen. Angst bildet immer auch eine psychische Struktur für abhängiges Verhalten. Für einen wie dargestellt erlebenden Menschen beginnt nun ein Etappenlauf. Meist entwickelt er kurzfristige Lösungen und erreicht damit den Zustand verstandesmäßiger Konsonanz. Regelmäßig holt die Lebenswirklichkeit den Typus aber auch ein und zwingt durch entsprechende Ereignisse neue Dissonanzen auf, die dann wiederum nach Lösungen suchen. Die Gefahr für jeden, der so ausgerichtet lebt, besteht darin, dass sogar erfolgreiches kurzfristiges Bewältigen zu einer Reduktion der Persönlichkeit führt. In der modernen Sprache würde man sagen: „Der Stress zieht jemanden stetig runter.“
So wie das Streben nach Dauer zu unserem Wesen gehört, bleibt unser Leben immer im Fluss. Alles ist fortwährender Wandlung unterworfen. Alles fließt in einem immerwährenden Entstehen und Vergehen, das sich nicht aufhalten lässt. Es ist ein Anliegen von Madame Guyon, im Einzelnen hier seine religiösen Wurzeln aufzuzeigen. In der Bereitschaft, spirituelles in uns aufzunehmen, können wir eine Lösung entwickeln. In der Vorstellung von Zeitlosigkeit, Ewigkeit und Allgegenwärtigkeit des Gottes erfüllen wir unser Bedürfnis nach Dauer. Der Damit erlebte Zustand bietet uns Sicherheit, für die wir aber etwas tun müssen. In allen Religionen verankert ist die Methode der Meditation. Das Gebet im christlichen Glauben ist ein hervorragendes Mittel der Meditation.
Entscheiden wir uns für eine spirituelle Entwicklung, ist die entsprechende Meditation eher passiv ausgerichtet. Nutzen wir die Möglichkeit zur Erzeugung seelischer Gesundheit und auch Ganzheit, ist die zu bestimmende Form eher aktiv ausgerichtet.
In Madame Guyons Denkwelt spielt die spirituelle Dimension des Ewigen und Überindividuellen die Hauptrolle. Bringt sich jemand wie im Text dargestellt in persönliche Schwierigkeiten, reicht die einfache Meditation zunächst aus, sich nach den Anforderungen des christlichen Gottes selbst zu helfen. Entspannungsübungen helfen, das Ausagieren der Kräfte hilft ebenso wie das Gespräch beim Arzt und eine mögliche medikamentöse Unterstützung. Gut ist immer alles, was der Bewusstwerdung dient. So kann an dieser Stelle eine selbstgewählte Übung trainiert werden, die zur Folge hat, sich über innere Zustände klar zu werden und zu überlegen, wie Zustände gegen Zustände sinnvoll Verwendung finden können. Dies ist der eigentlich therapeutische Anspruch, den Madame Guyon in ihren Ausführungen stellt. Man könnte sagen, eine Aufrechnung über die Erzielung von inneren Zuständen hat einen hohen therapeutischen Effekt. Durch aktives In-sich-Hineinhorchen kann jeder für sich Erkenntnisse entwickeln und produziert damit eine Lösung im Grundverständnis der Übung Mentaltrend 3.
Ab S. 49 thematisiert Madame Guyon mögliche Folgen der Abwendung vom christlichen Gott. Für jemanden, der vorher eingebunden war in die Glaubensgemeinschaft bleibt da übrig der Weg in eine Einsamkeit, die sich auf einer tieferen Ebene der Person einfindet. Sie ist dann heilsam, wenn sie aus der Selbsterkenntnis heraus entsteht. Das kann z. B. der Aspekt der Enttäuschung über sich selbst sein. Die normale Entwicklung als Folge der Einsamkeit ist die allgemeine Abwendung der Person von Gewohntem. Die Steigerung davon endet im Rückzug meist im Hinblick auf bestehende soziale Umfelder. Im theologischen Grundverständnis können solche Vorgänge durchaus als Reinigung aufgefasst werden, die dann gefährlich werden, wenn Angst hieraus erwächst.
Ab S. 50 beschreibt Madame Guyon die Folgen einer entstandenen Selbstzufriedenheit als statischen Zustand. Jemand hat sich dann auf einem neuen Niveau eingerichtet. Nach Madame währt dieser Zustand nicht lange und es kommt zu neuen Bewegungen in der Person. Diese münden auf S. 51 in einen Hang zum Bösen. Madame Guyon erklärt diesen Vorgang einer Entstehung aus einem Gottesbezug heraus. Dies geschieht dann durch das Aufeinandertreffen von latenten Forderungen (Gott, Seele, Person selbst), die auf unbewusste Triebe treffen. Ein desolater Zustand, der den Menschen hilfsbedürftig macht.
Der Abschnitt endet auf den S. 52/53 mit einem etwas näheren Eingehen auf den wirkkräftigen Dialog zwischen der Person und Gott. Die mystische Sichtweise von Madame Guyon und auch allgemein lässt hier verschiedene Dinge deutlicher und offensichtlicher werden, besonders für den am Glauben interessierten Christen. Madame Guyon spricht vom Impuls der Machtausübung (Zepter), von dem auch Gott bei Bedarf Gebrauch macht. Für jeden Gläubigen ist dies ein konstantes Spannungsfeld, mit dem jeder für sich zurechtkommen muss. Für die Persönlichkeit aus der Lektüre gilt es Lösungen zu entwickeln, die die Akzeptanz der Gnade Gottes als Fürsorge berücksichtigen und die gleichzeitig einen Umgang mit der ungewollt erreichten Einsamkeit ermöglichen. Der Weg in die Einsamkeit führt zu sich selbst und ist ein wichtiger Teil und ein Angebot des Heilsplans Gottes.
Nur der bewusste Geist kann zu Einsichten gelangen, nur er hat die Tendenz, aktiv zu sein. Das bedeutet an dieser Stelle, verschiedene Inhalte zu produzieren, z. B. als Vorstellung, Gedanke, Affekt oder als Emotion. Damit bewegt die beschriebene Person sich lediglich im Spektrum einer Normalität, in Madame Guyons Aufbau der Persönlichkeiten ein Rückfall auf eine eigentlich überwundene Entwicklungsstufe. Schafft es so jemand, in die von Madame erwähnte Ruhe zu finden (Meditation), kann er den Gottesbezug herstellen und Themen bearbeiten, die ihm selbst helfen und die nur mit der Hilfe Gottes weiterentwickelt werden können.
Über das Gedankengut des mystischen Glaubens verweist Madame regelmäßig auf die für den Menschen abhängige Hilfestellung des christlichen Gottes. Jede Form der Hinwendung zu Gott ist eine Hinwendung zum Guten und geschieht ausschließlich unter dem Einfluss der göttlichen Gnade (passives Verhalten). Der Eigenverdienst des Menschen besteht in seinem Anteil. Innerhalb dieses Rahmens kann er auch seine Freiheit genießen. Bewegt sich der Geist zum Guten hin, ist Gott der eigentliche Beweger und Bewirkende. Über Seelenaktivität können wir persönlich Gottes Belohnungen erfahren durch regelmäßige Vergebung unsere Sünden. Die Stellung des freien Willens sieht Madame Guyon ähnlich wie Augustinus. Das bedeutet, der freie Wille des Menschen ist durch Gottes Gnade zum Guten hin befreiter Wille.
Zur „ersten wirkende Kraft“ (S. 10 der Lektüre): der bisherige Aufbau der Arbeit sollte vordergründig die ansprechen, die auch bereit sind, sich auf die Lektüre einzulassen. Dies könnte auch ein besonderer Anspruch der Autorin gewesen sein. Darüber hinaus soll die dargelegte Auffassung aber auch informieren, inspirieren und diejenigen zufriedenstellen, die an erster Stelle verstandesmäßige Antworten suchen. Letzte Gruppe sollte nachfolgendes beachten:
Mi dem „aktiven Lichtweg“ versucht Madame Guyon in besonderer Weise, dem Leser einen vollkommenen und liebenden Gott vorzustellen, der den Menschen annimmt und ihm die nötige Geborgenheit verschaffen will. Über die Wahl der richtigen Lebensform und dem Erreichen von christlicher Demut kann dies in der Ewigkeit möglich werden. Über den Einsatz der vielfältigen Energie und Kraft kann der zuerst beschriebene Typus dieses Ziel wie folgt erreichen: aus der Akzeptanz eines übergeordneten Triebes (Vollkommenheit) ergibt sich zu Beginn des Lebens für jeden Menschen folgende fundamentale Position. Wir alle kommen hilfsbedürftig und abhängig zur Welt. Der erste Schrei drückt in besonderer Weise die Stellung eines jeden zur Außenwelt aus. Unmittelbar hiernach kämpfen wir dem Grunde nach um unsere Befriedigung und müssen um sie bangen. Der diesen Vorgänge zugrundeliegende Mechanismus kann als Trieb aufgefasst werden. Es ist ein übergeordneter Trieb, der Anteil eines Gesamttrieblebens ist. Unerledigte Bedürfnisse führen zu diffuser Erregung. So entstehen Affekte. Die Psyche drängt auf Ausgleich eines auf natürliche Weise entstandenen Gleichgewichtsystems. Über den beschriebenen übergeordneten Aggressionstrieb werden unsere Primärtriebe gespeist. Auch auf dieser Ebene gilt das Homöostase-Prinzip. Die Umkehrung des Aggressionstriebes führt einheitlich sogar zu erwünschten Verhaltensweisen. So entstehen im Menschen Züge von Demut, Unterwürfigkeit, Geselligkeit und Anpassung, weil Aggressionen sich gegen sich selbst richten können. Den vorgenannten Kriterien steht antagonistisch das Liebesgefühl des Menschen gegenüber. In der Dimension des „Übergeordneten“ begegnet dem Aggressionstrieb einerseits die allumfassende Menschenliebe andererseits. Im Christentum kann diese auch als Nächstenliebe aufgefasst werden. Die Kindesliebe keimt im Elternhaus zu diesem hin geordnet auf und erfährt in ihrem Wachstum mit entsprechender Wandlung immer größer werdende Bereiche der Menschheit. Als Eigenliebe bezieht sie sich auf den Menschen selbst und erhält im Narzissmus eine extreme Form (kindliche Pietät). Da die Liebe Grundlage eines jeden Gemeinschaftsgefühls ist, bietet sie unmittelbar einen Nutzen im Blickfeld zur Gesellschaft (Utilitarismus). Sowohl in der Nächstenliebe und vor allem primär in der Eigenliebe wird der Gottesbezug hergestellt.
Aus der Konfliktsituation (Antagonismus) wird die von Madame Guyon erwähnte erste Wirkkraft als Mechanismus entwickelt.
Auch der „passive Lichtweg“, die „zweite wirkende Kraft“ ist gekennzeichnet durch einen Überbau, dies ist die Liebe, „die Gott über alles liebt“ (s. Kap. 4.4.2 Kompendium Katechismus). In der Denk- und Glaubenswelt des Christentums und damit auch von Madame Guyon ist dies die vollkommene Liebe, deren Erreichbarkeit jedem Christen möglich ist über den Aspekt der Heiligkeit. Abhängig ist der Mensch allerdings unabänderlich durch das Dazutun Gottes. Das ist seine Gnade.
Um diesen Status der Liebe zu verstehen, müsste er aus dem „Menschsein“ heraus entwickelt werden können. Das geht dann, wenn man den Menschen in seinen Elementarbedürfnissen betrachtet. Nach A. Maslow kennt der Mensch fünf Stufen einer Hierarchie von unten nach oben, beginnend mit den physiologischen Bedürfnissen und endend mit der Selbstverwirklichung, die Vollendung und Vollkommenheit einschließt. Mechanismus der Befriedigung ist das menschliche „Streben“. Wichtig ist anzunehmen, dass die Befriedigung eines jeweiligen Bedürfnisses keine Motivation freisetzt, das Nächsthöhere zu erreichen. Die Beschreitung des Lebensweges geht aber von dieser Grundüberlegung aus, dass Menschen praktisch den Weg von unten nach oben leben. An dieser Stelle muss man von einer numinosen Kraft ausgehen, die jedem Menschen im vorgenannten Sinne und auf natürliche Weise fortstreben lässt.
Ein weiteres Kriterium geht von der Tatsache der Unvollkommenheit des Menschen aus, die ihn sich selbst als minderwertig erleben lässt. Dieser Zustand aktiviert auch das erwähnte menschliche Streben, hier nach Überwindung. Dieses Streben setzt den gesamten Strom unseres Seelenlebens in Gang, um aus dem negativen Gefühl der Minderwertigkeit zu einem Gefühl der Überlegenheit zu gelangen. Dieses Streben nach Selbstentwicklung kann erst nach Befriedung weiter entwickelt werden zur christlichen Vollendung hin. Treibende Kraft ist die numinose Energie.
In der Lektüre auf S. 19 teilt Madame Guyon den Menschen in zwei Arten ein, die sich voneinander unterscheiden:
Ein Typus kann Gott erwarten und lebt die sog. passive Beschauung = göttliche Liebe. Dies kann man praktisch anlagebedingt auffassen. Diese Liebe nennt man „amor die intellectualis“, die sog. geistige Liebe zu Gott. Auch nach Ansicht von Madame Guyon bedeutet dies die höchste „Erkenntnisstufe“ auf der der Mensch Gott erfassen kann. Diese geistige Liebe beherrscht die menschlichen Affekte (Macht), sorgt für Freiheit der Seele und gibt der Ewigkeit eine Form.
Der andere Typus wird durch die Sinne gesteuert und erlebt die sog. „amor fati“, die Liebe für den höchsterreichbaren Zustand. So wird die wohl größte Anzahl der Gläubigen erfasst. Aus der Persönlichkeit im Hinblick auf seine soziale Stellung in der Gemeinschaft ergibt sich der Grad der Zufriedenheit in Glaubensfragen und die persönliche Stellung zu Gott. Dies so Erreichte fließt ein in einen Bewusstseinszustand, der dann zum Ziel um seiner selbst willen wird.
Madame Guyons Symbolik des Wassers bedeutet auch die Hervorhebung des Guten im Menschen (S. 25). Damit übernimmt der Mensch die Natur des Wassers. Da Wasser von selbst nach unten fließt, sind alle Wasser gleich und gleich gut. Wasser fließt direkt ins Meer, schnell, anderes langsam, manches Wasser bleibt klar und sauber, anderes wird trübe (böse), bleibt aber trotzdem Wasser. Ersteres verkörpert die Gutheit und ist zweifellos die menschliche Natur. Von der Bosheit kann man nicht das Gegenteil behaupten (trübe).
Über die gelebte Liebe kann der Mensch den Gottesbezug erfahren und mit sich und der Gemeinschaft eins werden. Er kann die Schöpfung Gottes in ihrer Wirkweise in sich selbst erkennen. Fehlt diese Erkenntnis, wird diese Verbindung nicht hergestellt, das bedeutet, die Liebe fehlt. Der Mensch verliert Halt und Maß. Die zuvor erwähnte numinose Kraft wird hier zu einer „bemühenden Bewegung“. Der Mensch muss also nach Madame Guyon durch die Aktivierung seines Bemühens die Liebe gewinnen (wirkende Kraft). Auch das passive Erwarten im Sinne von Madame Guyon setzt dieses Bemühen als Kraft voraus. Die übergeordnete Kraft des zweiten Weges ergibt sich eigentlich aus der natürlichen Konfliktsituation des Menschen.
Hier soll die Introspektion angewendet werden. Prüfen Sie Ihre persönliche Grundhaltung zu religiösen Dingen. Ordnen Sie sich selber ein und stellen Sie sich günstiger weise auch selbst in Frage. Machen Sie sich Ihren Umgang mit Glaubensangelegenheiten bewusst.
Überbau der dritten Kraft, die Madame Guyon darstellt, ist die feste Überzeugung, der tiefe Glaube an einen Gott (Pantheismus), s. S. 31 „Gott im Herzensgrund“.
Gemeint ist hier eine in der Person des Gläubigen tief angelegte Ansprechbarkeit auf religiöse oder göttliche Dinge. Es ist die von Gott gelegte Spur, die als Fährte den Lebensweg hat, der zu ihm führt. Die hier gedachte Anlage ist nicht die Erbanlage, d. h. Gene, die die Augenfarbe vererben, die Statur weitergeben, vielleicht auch gewisse Talente oder Begabungen. Die Anlage verkörpert vor allem nichts Gelerntes, sondern stellt Vorhandenes dar, das eine Wirkweise auslöst, s. z. B. auch das von dem Wissenschaftler Eysenck entwickelte Persönlichkeitsinventar der Intro- bzw. Extraversion.
Der eigentliche Grundprozess für die wirkende Kraft ergibt sich aus der Sichtweise der Madame „… dass er sie in ihrem Innern seine Ferne empfinden lässt.“ Diese Ferne wird allerdings vom Menschen erst erlebbar als äußere Form (Dimension), sonst gäbe es keine Bildlichkeit und keine Symbolik. Die so dargestellten Gegensätze ergeben sich zunächst aus Innerem und Äußerem und verhalten sich zueinander nach dem Prinzip des Motus contrariums, d. h. als Bewegungsverhältnis, das aus der Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen in der Gegenwart (Zustand) entsteht. Das bedeutet auch als entstehende Kraftquelle. Trotz Gegenseitigkeit entsteht eine Einheit in der Sinngebung. Diese geht in einen inneren Zustand für den Menschen ein als „in sich ruhend“. Da dieser Zustand äußerst angenehm ist, wird sehr gern daran festgehalten. Dies ist für die Suchtarbeit in besonderem Maße interessant, weil über das Potential dieses Zustandes, der als „nicht auflösungsbedürftig“ sich im Gehirn manifestiert, Suchtrisiken entstehen. Da innere Ruhe keine Konstante ist, wird sie von der Unruhe abgelöst. Nach Madame bedeutet das, die Heftigkeit des Brandes wird verdoppelt. So kann Zweifel z. B. für massive Unruhe sorgen. Der Mensch tendiert bei dissonanten Erlebensformen automatisch dazu, Konsonanz wieder herzustellen. Diese wird psychisch regelmäßig als Wohlbefinden erlebt. Erreicht wird eine innere Harmonie mit sich selbst und auch spürbar. Diesen Vorgang kann man auch auffassen als Vereinigung von Gewesenem mit Kommendem im gegenwärtigen Augenblick. Therapeutisch in die Suchtarbeit gedacht, machen diese Zustände Sinn, wenn sie in einen dritten übergeleitet werden können.
Mystik = unio mystika, wesentliche Merkmale in der Lehre Madame Guyons:
Christliche Mystik meint das Geheimnisvolle und auch das Dunkle. Die Mystik kümmert sich intensiv um eine Form religiösen Erlebens. Tiefgläubige beschreiten einen Weg, der sie wegführt von der Bevorzugung allen Äußeren. Es geht dabei um Hingabe, Versenkung und vor allem Vereinigung mit Gott. Durch Übung und Lernen von Techniken können bewusste Erlebensweisen beeinflusst werden. In der Mystik Madame Guyons ging es eher um grundsätzliche Dinge. Sie schürt den langfristigen Blick auf Gott. Über Erfahrungswerte entsteht Wissen, zu dem man auf keinem anderen Wege Zugang finden kann. Im Zentrum ihrer Mystik stehen die Einung mit Gott und der Versuch, dies im diesseitigen Leben umzusetzen. Mindeststandard für jeden Gläubigen sollte der Versuch sein, Gott Einkehr in das „Herz“ finden zu lassen. Getragen wird der Mensch durch die Hoffnung. Hoffnung ist auf Zukunft ausgerichtet, hat aber auch einen starken Bezug zur Gegenwart. „Erhofftes prägt ebenfalls den inneren Zustand.“
Die Einswerdung in und mit Gott impliziert die Geist-, Seele- und Körpervereinigung. Dieses Geschehen ist als ein Prozess aufzufassen, als ein „Aufstieg des Menschen vom Materiellen zum Geistigen hin“. Voraussetzung ist eine Reinigung des Menschen. Die gelungene Reinigung ermöglicht im Sinne Gottes die gelebte Menschenliebe und wird Teil der Gottesliebe. Das so in der Liebessphäre gesteuert werden, wird in der christlichen Mystik als Wiedergeburt aufgefasst, als Wiedergeburt des Geistes. Damit werden auch Willensentscheidungen Teil des sog. göttlichen Willens. In der Lebenswirklichkeit erfolgt vorgenannte Reinigung über den Reinigungsakt des Gedächtnisses, d. h. des Gewissens. Der Vorgang macht Veränderungen im Menschen möglich. Vollendetes Wissen ist ein erstes erreichbares Ziel in der Mystik.
Zweifel: Der Mensch im Zustande des Zweifels ist ein Gefangener zwischen Alternativen. Vom Grundvorgang her betrachtet wird aus einer Einheit mindestens die Zweiheit. In einem psychologischen, aber auch theologischen Verständnis wird daraufhin ein Grund zur Überwindung dieses Zustandes initiiert. Berücksichtigt man ein tiefer liegendes Grundverständnis, findet man eine Basis aus diesem Aspekt heraus für eine selbstgeschaffene Sehnsucht. Philosophisch betrachtet ist die Zweiheit das Normale, uns allen als Gegensatz bekannt. So entstehen im glaubensmäßigen Sinne auch die Auslösebedingungen zum Thema Jenseits und Diesseits. Erreicht werden soll immer die Einheit. Die zur Verfügung stehenden Mittel im christlichen Glauben sind die Aspekte Sehnsucht und Liebe.
Gnade: Gnade im göttlichen Verstehen bedeutet Liebe. Gnade ist eine ungeschaffene göttliche Energie und Kraft. Aus der Wirkung dieser göttlichen Gnade entsteht die Möglichkeit der Erkenntnis Gottes (Potential). Der Mensch ist abhängig von dieser göttlichen Kraft, die über allem anderen steht. Das „All…“ im Verstehen entspringt dieser Kraftquelle. An der Wirkung der göttlichen Gnade auf den Menschen selber ist dieser auch beteiligt. Er bestimmt das Maß, indem er bereit ist, die Gnade zu empfangen.
Der in der Mystik bekannte Begriff der Wiedergeburt erhält Leben durch die Wiederbelebung einer geistlichen Lebensführung und ist so Teil des Planes oder besser des Heilsplanes Gottes (Vergöttlichung).
Mystik: Mystik ist der christliche Weg, die unmittelbare Anwesenheit/Gegenwart Gottes als Einheit Mensch/Gott zu erfahren. Dieser Zustand kann trainiert werden und wird erreicht durch geistliche Übungen (Kontemplation). In der Mystik gibt es eine Vorliebe für das Feuer als Symbol der Liebe und des göttlichen Geistes (Intuition). Das zeigt sich auch in der Ausrichtung des Glaubens auf den Himmel. Das aus dem Hebräischen stammende Wort für Himmel vereint die Gegensätze Feuer (Geist) und Wasser (Materie). Dabei geht es im Besonderen um die Möglichkeit der Realisierung dieser Gegensätze zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Über den Begriff des Himmels werden diese Gegensätze aufgehoben und damit einer „Hier und Jetzt – Erlebbarkeit“ entzogen, denn im Himmel gibt es keine Gegensätze mehr.
Unitas: Das Wesen der schon im Text angesprochenen Form liegt in der Einheit. Formung bedeutet, dass irgendetwas über die Bewegung sich vereint = unum. Jeder Gestaltungsvorgang in der Dingwelt findet in unum sein Ziel. Darüber hinaus bedeutet Formung aber auch etwas begrenzen. Der gestaltenden Masse aus dem Prinzip des Unbegrenzten muss in der philosophischen Betrachtungsweise die Form als Begrenzung gegenüber gestellt werden. Platon sieht Schöpfung als Zusammenwirkung dieser beiden Phänomene. In einer eher religiösen Betrachtung wird die „theologisch wahre Formung“ sichtbar. Sie wird in der Hinwendung zu Gott für den Menschen erfahrbar. Für das Kriterium der Verwesung bedeutet das, dass nach dem Religionslehrer Augustinus die Seele den Körper formt, d.h. die Materie des Körpers. Die Seele bindet danach den Körper zu einer Einheit zusammen. Die Einheit des Körpers wird dadurch garantiert, dass die Seele ihm das Leben spendet und auf diese Weise vor Verwesung schützt (Verwesung im Text bei Guyon beachten). Einheit garantiert Leben und damit Existenz. Das andere Extrem sind Aspekte der Auflösung, Trennung, Zerfall und endliche Nicht-Existenz. Augustinus betrachtet Einheit und damit das philosophische Sein als Konvertibilität, also als austauschbar oder übertragbar. Wie bereits erwähnt läuft die Formung des Menschen über das Dazutun der Seele ab. Sie bildet das die Körpermaterie formende, das bedeutet Einheit stiftende, und wird dadurch zum Seins-Schaffenden Prinzip. Die Seele ist verantwortlich für das Lebensprinzip des Körpers (Vitalseele). Sie entfaltet ihre Wirkung dadurch, dass sie Positives anstrebt und versucht, Schädliches zu verhindern. Sie soll im Sinne der Schöpfung die Unversehrtheit des Körpers erhalten. Nach Augustinus besitzt sogar der Schmerz Veränderungspotential in sich und meint damit Gutes. Über das Leiden wird auch das Streben der Seele nach Einheit oder auch als Gier deutlich gemacht. Die gesamte Schöpfung erhält damit eine Ordnung. Der Glaube an die Auferstehung des Leibes hat einen direkten Bezug zur Verwesung des Körpers und wird hieraus veranlasst.
„Panta rhei“, Heraklids Aussage, dass alles Lebendige fließend ist, alles sich hiernach im Fluss befindet, wurde bereits an anderer Stelle erwähnt. Hier soll der Fluss jetzt in seiner Funktion als Überbau kurz erläutert werden.
In der gängigen Symbolik des Flusses ist dieser auch ein Bild für die Vereinigung der Gegensätze des Beständigen im Blickfeld für das zeitliche Werden und Vergehen. Hervorzuheben ist, dass im sog. „Fluss der Dinge“ zugleich die Ruhe des Beständigen gefunden wird.
Erst durch F. Bacon im 17. Jhdt. wurde Narziss zum Symbol der Selbstliebe (Eigenliebe bei Guyon). Dem zugrunde liegt die älteste Fassung der mystischen Erzählung, die Ovids Metamorphose schildert. In der Geschichte verkörpert der Flussgott einen machtvoll-dynamischen Aspekt. Die reizende Nymphe wird ins Flussbett gezogen und erleidet dort Gewalt. Es war damit ein unkontrolliertes und übermächtiges Bedürfnis des Lebensflusses, dem die Figur des Narziss entspringt. Narziss stellt die psychologische Gegebenheit dar, eine mächtige Triebkraft zu sein, eine Kraft, die auch das Seelenleben diktiert. Madame Guyon spricht von der Wildheit des Wassers und verweist damit auf das Jagdelement in der Erzählung. Gemeint ist das Instinkthafte, das auch die Grundlage für die sozialisierte Form der Bedürfnisse liefert. Auch hier vereint die Gegensätze des Unkontrollierten auf der einen und des Sozialisierten auf der anderen Seite.
Der Fluss in dieser Stellung symbolisiert auch das „Selbst des Menschen“. Geographisch wird es der Körpermitte zugeordnet und offenbart nach Jung das innere Wesen, den inneren Kern des Menschen. Dieses Kriterium schließt die individuelle und soziale Bestimmtheit des Einzelnen ein (Programm). Hier wird die Möglichkeit des Vorbestimmten angesprochen. Das Wasser wie auch das Selbst signalisieren eine undurchdringliche Tiefe und sind damit ein Ort des Geheimnisvoll-Unbekannten. Damit ist auch gemeint, dass das Seelisch-Unbewusste im Selbst mit erfasst wird. Das Selbst bestimmt die Person als Ganzes. Unbewusste Anteile können nur indirekt erschlossen werden.
Madame Guyon würdigt damit auch das Seelenleben der Gläubigen. Das Versinken im Wasser stellt das Eingehen der Seele in die Materie dar.
Die Übernahme des Dargestellten lässt den nachfolgenden Text in seiner Vergeistigung besser verstehen.