... persönlich eigenartig ?

Dass es „ die typische Persönlichkeit“ eines Trinkers nicht gibt, ist wohl den meisten Menschen heute bekannt. Der eher Introvertierte kann genauso sicher eine Abhängigkeit entwickeln wie der Choleriker, der Extravertierte oder auch der Stadtneurotiker. Ein Gen, das eine spätere Abhängigkeit auslöst, ist bis heute auch noch nicht entdeckt worden. Viele Untersuchungen über die Jahrzehnte hinweg haben bis keine endgültige schlüssige Erkenntnislage hervorgebracht. Was verantwortlich geht, sind persönliche Eigenarten festzumachen, die man dann als brauchbare Hinweise für Merkmale, die eine spätere Abhängigkeit begünstigen, auffassen kann. Damit steht jedem Interessierten die Möglichkeit offen, sich seine eigene Meinung zu bilden. Die Krankheit bleibt ein multifunktionales Problem und man sollte weiterhin davon ausgehen, dass sie letztendlich durch eine Verkettung unglücklicher Umstände ausgelöst wird.

Der Alkoholiker verkörpert als Persönlichkeit alle Merkmale, die auch Nichtbetroffenen zugewiesen werden können. In manchen seiner Eigenschaften unterscheidet er sich lediglich graduell.


Die persönliche Empfindsamkeit bzw. Sensibilität macht den Unterschied aus. Die erhöhte Sensibilität des Alkoholikers verstärkt die Intensität seines Erlebens. Das bedeutet für sein Konsumverhalten, dass diverse Substanzen im Vergleich zum Nicht-Alkoholiker für ihn eine erhöhte Gefahr mit sich bringen.  Man kann sagen, die Sensibilität es Einzelnen stellt eine potentielle Gefahr für Betroffene dar. Dies gilt dann für alle Substanzen, die Erlebensweisen beeinflussen. Dispositionelle Vorgaben bergen also ein Risiko in sich.

Für jeden Personenkreis, der noch empfindsamer als der Vorgenannte reagiert, ist die Gefahr noch weiter erhöht. In der Alltagspraxis nennt man das Überempfindlichkeit, in der Fachwelt Sensitivität. Für diese Menschen ist es völlig normal, Vermeidungsverhalten zu entwickeln. Nichtsahnend erschließen sie damit weiteres Potential, um zu einem späteren Zeitpunkt eine Abhängigkeit zu etablieren.

Menschliches Handeln ist nicht nur rational gesteuert, sondern passiert vielfach auch auf einer spontanen intuitiven Ebene. Intuition wird definiert als Eingebung, ahnendes Erfassen von etwas oder als unmittelbare Erkenntnis ohne Reflexion. In unserer Gesellschaft ist intuitives Handeln weitestgehend verpönt, untergräbt es doch die Fähigkeit zum Denken. Intuitives Handeln wird auch oft mit instinktivem Verhalten von Tieren verglichen.

Intuition und instinktives Verhalten sind jedoch auch für Menschen wichtig und sollten einen hohen Stellenwert haben. Der Bedeutungsgehalt liegt darin, dass beide Kriterien für ein funktionierendes Selbstschutzsystem unerlässlich sind. Intuition ist eine ernstzunehmende Erkenntnisquelle für jeden Süchtigen. Sie ermöglicht ihm die nötige Einsicht, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Hier liegt die Quelle vielfältiger Motivationen vor allem auch die, Hilfe anzunehmen oder lange Zeit zu verwerfen. Hier findet sich auch eine Quelle vielfältiger Irritationen im Hinblick auf die Umwelt, weil der Abhängige keine Lösungen mehr entwickeln kann, adäquat mit dem Problem umzugehen.

Die Fähigkeiten, Probleme zu lösen, sind  beim Betroffenen nicht genügend ausgebildet. Sieht man Strategien zur Problemlösung in erster Linie als rationale Angelegenheit, dann spielen zwei verschiedene Denkformen eine wichtige Rolle. Einmal das reproduktive Denken, das auf Erfahrungen der Vergangenheit beruht: die potentielle Abhängigkeitspersönlichkeit positioniert sich selbst zwischen zwei Fronten, d. h. die Person hat Schwierigkeiten, überhaupt Stellung zu beziehen oder aber wenn erforderlich klare Prioritäten zu setzen. Die Folge eines häufig Hin- und Hergerissen Seins können fatal werden (Stress). Die andere Form des Denkens, nämlich das produktive Denken, erfordert die selbstbewusste Persönlichkeit, die aber aus den eben genannten Gründen unzulänglich entwickelt wurde. Daraus ergibt sich, dass Abhängige meist Schwierigkeiten entwickeln, sich zu artikulieren.

Abhängige unterscheiden sich von anderen in der Norm ihres Entwicklungsverlaufs. Der Begriff der Norm bezieht sich dabei auf drei Prinzipien:

  1. das Prinzip des Wachstums (Körperstruktur, aber auch die Organe),
  2. das Prinzip der Reifung. Hier werden sog. ungelernte Verhaltensaspekte angesprochen, z. B. Reflexe, Intuition oder auch die menschlichen Instinkte, sowie
  3. das Prinzip des Lernens.

Die Prinzipien von Wachstum und Reifung sind für die Abhängigkeitsproblematik von besonderem Interesse, weil sie biologischer Natur sind. Das bedeutet, sie sind uns als vorgegebene Disposition mit auf den Lebensweg gegeben und haben zumindest eine latente Steuerungsfunktion. Konflikte entstehen hier meist in Blickrichtung zu Umwelteinflüssen. Für den Laien einfach übersetzt bedeutet das Vorgenannte, dass Konflikte in der Entwicklung erwachsen können, wenn sich jemand entweder frühreif oder als „Spätzünder“ entwickelt.

Alkohol ist Lösung, keine Ersatzlösung für den Trinker. In der Person des Betroffenen angestaute Enttäuschungen drängen darauf, eine geeignete Lösung zu finden. Jede andere Form der Handhabung fällt dem Trinker schwer. Im Bewusstsein tiefgreifender Not macht Alkohol dann das Ertragen der Gegenwart erträglicher.

Auf das Misslingen der  – vielleicht auch notwendigen – Anpassung folgt die stillschweigende Erkenntnis, ein Außenseiter zu sein.  Hier entsteht der Suchtdruck.

Der potentiell Süchtige entwickelt aus sich selbst heraus kein stabiles Rückgrat. Billigt ihm sein Umfeld keins zu, sitzt er auf einem Pulverfass.

Regelmäßig enttäuschte Erwartungen lassen irgendwann mal das Fass überlaufen. Wenn Schaden eben nicht klug macht, wird Alkohol eingesetzt.

Das Erlebnis einer tiefen Einsamkeit und das Gefühl allein dazustehen führen zu einer Unselbständigkeit, die ihre Wertigkeit darin hat, bestimmte Ängste auszulösen.

Angst ist immer ein zentrales Thema in der Suchtproblematik, insbesondere, weil sie chronischen Stress verursacht. Der Energieaufwand, der so abgezweigt wird, fehlt für eine sinnvolle Verwendung.