Eine Interpretation des Gedichtes

"Am Fenster" von Hildegard Maria Rauchfuß

erstmals 1970 erschienen und 1977 von der Ostrock-Band City erfolgreich vertont. Der Song hat bis heute Kultstatus.

Einmal wissen dieses bleibt für immer
Ist nicht Rausch der schon die Nacht verklagt
Ist nicht Farbenschmelz noch Kerzenschimmer
Von dem Grau des Morgens längst verjagt

Einmal fassen tief im Blute fühlen
Dies ist mein und es ist nur durch dich
Nicht die Stirne mehr am Fenster kühlen
Dran ein Nebel schwer vorüber strich

Einmal wirklich fassen und nie wieder
alles geben müssen, was man hält
Klagt ein Vogel? Ach, auch mein Gefieder
Näßt der Regen flieg ich durch die Welt

Einmal fassen tief im Blute fühlen
Dies ist mein und es ist nur durch dich
Klagt ein Vogel? Ach, auch mein Gefieder
Näßt der Regen flieg ich durch die Welt.


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Hildegard M. Rauchfuß, Bundesarchiv, Bild 183-C0305-0006-001 / Frotscher, Heinz Dr. / CC-BY-SA [CC BY-SA 3.0 de (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)], via Wikimedia Commons

Das Gedicht beschäftigt sich mit einer Grundstimmung des Menschen, einem  inneren Zustand, den man durchaus als Melancholie bezeichnen kann. Die Leipziger Autorin könnte aus ihrer subjektiven Erfahrung heraus geschrieben oder aber Gebrauch gemacht haben von ihren Fähigkeiten zur Empathie. Melancholie meint hier vordergründig ein intensives Auf Sich Zentriert Sein.

Das Gedicht wurde von der ostdeutschen Dichterin primär für die dort lebende Bevölkerung geschrieben. Es ist ein Ratgeber, der den Menschen dabei hilft, Abstand zu gewinnen. Die individuelle Erfahrenswelt wird thematisiert und deren Bedeutung für eine ideale Alltagsbewältigung herausgearbeitet. Dazu dient der Rausch bzw. eine Vorstufe davon. Der oben beschriebene Zustand kann auch über Meditation bewusst herbeigeführt werden, ebenso kann er aus einem Gefühlsmix entstehen, der Komponenten von Traurigkeit, Enttäuschung, Frustration etc. enthält, vom Individuum aber als angenehm erlebt wird. Unterstellt man den Aspekt der Melancholie, setzt die Autorin diesen mit der Sucht gleich. Das Gedicht setzt den Alltag in einen Gegensatz zur subjektiven Erscheinungswelt des Einzelnen, seinem inneren Zustand.

„Einmal wissen dieses bleibt für immer“ Die Autorin verfügt über die Erkenntnis, dass in unserem Gehirn alles Gedachte auch gespeichert bzw. eingraviert wird. Es geht im Gedicht um das Subjektive, das für immer eingespeicherte Gefühl, die augenblickliche Empfindung, die zur Wiederholung aufruft. Die Dichterin benutzt hier die Tier- bzw. Vogelsprache. Diese dient als Symbol für sprachliche Eigenart in der ehemals DDR, d. h. es geht konkret um systemimmanente Vorgänge.

„Ist nicht Rausch der schon die Nacht verklagt“ Gemeint ist hier wieder der innere Zustand, der noch nicht Rausch ist, denn dann würden die Inhalte nicht gespeichert und erinnert werden können. Es geht um eine Vorstufe. Das Risiko für den Einzelnen besteht darin, dass er Suchtpotential entfalten kann. Im jedem Fall wird er auf Wiederholung drängen. Er wird Mittel zum Zweck. Neben dem inneren Zustand steht im Gedicht die Bewusstheit als Möglichkeit des Erlebens im Vordergrund. Es geht um die augenblickliche Stimmung, die in „Am Fenster“ entfaltet wird und in die man sich verliebt (Narzissmus). Im Grundverständnis von praktikabler Alltagsbewältigung vermittelt der innere Zustand über die persönliche Zufriedenheit die nötige Selbstsicherheit.

„Ist nicht Farbenschmelz noch Kerzenschimmer“ Die intime Erlebniswelt, um die es im Gedicht geht, fließt nicht über in etwas anderes. Auch nicht in etwas übergeordnetes Größeres. Es geht um das Subjektive, die verselbständigte und damit wiederholbare Erlebniswelt des Einzelnen. Auch Kerzenschimmer erlischt, Kerzenschimmer ist ein abgeschwächter Zustand, ein Fragment, ein Zustand, um den es im Gedicht nicht geht. Es geht um die innere Verfassung, die bleibt und nicht abgeschwächt wird, es geht um eine Ausgangsposition, die eine Eigendynamik entfaltet, die jedoch Sucht- und damit Abhängigkeitsrisiken enthält. Der Dichterein geht es hier auch um einen Verweis auf die verschiedenen Menschentypen. Bleibt der erstrebenswerte Zustand substanzungebunden, dann bleibt er unter der Kontrolle des Einzelnen.

„Von dem Grau des Morgens längst verjagt“ Derjenige, der so intensiv wie bisher beschrieben fühlen und erleben kann, muss zurückgeholt werden in einen normalen Alltag. Dieser fungiert gleichzeitig als Erlösung aus diesem Zustand, der in der Abweichung vom Alltag die persönliche Relevanz und Resonanz findet.

„Einmal fassen tief im Blute fühlen“ Jemand, der den Drang nach diesem Zustand gelernt hat und wertschätzt, ist davon zutiefst ergriffen. Dieser Jemand lässt nicht wieder los. Der Reiz des Unbekannten spielt in diesen Zustand hinein und begünstigt das daran festhalten, etwas ganz Fundamentales im gesellschaftlichen Kontext.

„Dies ist mein und es ist nur durch dich“ Das subjektive ist das Faszinierende, eine Eigenproduktion aus Dir, von Dir und für Dich. Du bist Urheber und Nutznießer gleichzeitig, eine verlockende Autarkie erschließt sich Dir, ein Traum. Die methodische Anwendung macht Dich zum aktiven Gestalter Deiner eigenen Identität. Das persönliche Element trifft den Gegenüber, das Vergemeinschaftliche.

„Nicht die Stirne mehr am Fenster kühlen“ Hier geht es nicht primär um die Gemütsverfassung, sondern um das Kriterium der inneren Erregung als Zustand. Körperlich kann Dich das Fenster abkühlen, aber du willst dieses Regulativ nicht mehr. Das Fenster fungiert zudem als Spiegel Deiner selbst. Die Autorin fordert auf, sich Dir selbst zu stellen und dies aus Dir heraus zu entwickeln. Das ist das gewisse Etwas. Das Fenster symbolisiert aber auch den Bezug zur Außenwelt, da Du in der Gegenseitigkeit gesehen werden kannst.

„Dran ein Nebel schwer vorüber strich“ Dein Atem(-hauch) verdeckt die Sicht, Deine Weltsicht, aber auch die eigene Sicht der Person. Du lebst in Deiner Begrenztheit, körperlich, psychisch und räumlich. Am Fenster vollzieht sich ein Erregungszustand, der sich sukzessiv steigert, Deine Wärme sorgt physikalisch für Temperaturunterschiede, das Glas beschlägt, die Sicht der Dinge wird verwischt. Hier schlummert die Abhängigkeit. Der Bezug zur Gesellschaft und dem System DDR wird in seinen Nuancen hergestellt. Die Bürger Ostdeutschlands können Spezifisches hierzu nur selbst entwickeln, die Autorin bietet Hilfe an über den erreichbaren Zustand mit Rauschqualität. Die Faszination besteht darin, dass man es selbst entwickeln kann und derjenige, der es für sich nutzen kann, wird sich von der Allgemeinheit kontrolliert unterscheiden. Das Angebot ist Hilfe zur Selbsthilfe. Im Kern geht es auch um soziale Kritik und soziale Verträglichkeit. Das Gedicht kann die Form der Lebensbewältigung beeinflussen und ist von der Grundausrichtung her auf jedes System anwendbar. Dadurch entstand mit der Zensur im DDR-System kein Problem. Auch die westliche Welt will als System den Menschen tendenziell verunsichern, eine Parallele zum damaligen Ostgebiet. Es gibt kein Verschmelzen mit einem System. Der Einzelne bleibt als Individuum Einzelkämpfer auch im Kollektiv.


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Die Ostrock-Band City von Hamster3mibe (Eigenes Werk) [CC BY-SA 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)], via Wikimedia Commons


„Einmal wirklich fassen und nie wieder / alles geben müssen, was man hält“ Hierbei geht es um das Verstehen. Es geht um die tiefere Ebene im Individuum, die Alleinsein bedeutet und die uns letztendlich voneinander abgrenzt. Tiefe Einsamkeit wird dann erlebt, wenn man anderes loslässt oder loslassen muss. Der Dichterin geht es vermutlich um Veränderung, sie sieht hier die Basis.

„Klagt ein Vogel? Ach, auch mein Gefieder / Nässt der Regen flieg ich durch die Welt.“ Der Bezug zur religiösen Komponente wird hergestellt, welcher auch als Gegensatz zum Alltagsverhalten gesehen wird.

„Einmal fassen tief im Blute fühlen“ Die Dichterin begreift jetzt die innere Verfassung als Möglichkeit, die Freiheit als Gefühl zu erleben. Es geht um Deine Identität, um Deinen Stellenwert. Es geht jetzt um Deine Sicherheit, die du aktiv entwickeln kannst sowie den Preis dafür. Das ist Deine Einsamkeit.

„Dies ist mein und es ist nur durch dich“ Über Deine gewonnene Erkenntnis zum Thema persönliche Bewusstheit erweitert sich der Blick für das Freiheitsgefühl. Du erkennst, dass es etwas Eigenständiges ist, das nicht teilbar ist. Denn subjektiv wird der Freiheitsaspekt auch nicht Teil eines Gemeinschaftsgefühls. Es bleibt nur für Dich erlebbar. Probleme können entstehen, wenn der richtige Umgang damit nicht gefunden wird.

„Klagt ein Vogel? Ach, auch mein Gefieder“ Ein Kollektiv bietet Schutz als Ganzes. Es setzt die Identifikation mit dem System voraus.

„Nässt der Regen flieg ich durch die Welt“ Die Dichterin hat den Vogel gewählt, um so über die Symbolik verschiedenes deutlich zu machen. Nach C. G. Jung symbolisieren Vögel die Gedankengänge der Menschen. Der Gedankenzug steht als Sinnbild für unsere Geistesakte. Vögel sind beschwingte Wesen, die Nesthocker oder Nestflüchter sein können. Auslösefaktor für den Vogelzug sind ähnlich wie beim Menschen immer genetisch vorprogrammierte Faktoren wie hormonelle Einflüsse, Stoffwechselaktivitäten oder z. B. Lichtkonstruktionen. Vögel handeln so zielorientiert und richtungsweisend. Sie reagieren auf sensibler Ebene. Das Gefieder dient dem Wärmeschutz und der Fortbewegung. Gefiederwechsel spricht übertragen auf den Menschen dessen Änderungsfähigkeit an. „Nässt der Regen“ ist eine Tautologie. Regen ist flüssiger Niederschlag. Aus kleinen Tröpfchen werden immer größere im Luftraum, die dann von der Luftströmung nicht mehr getragen werden und zu Boden fallen. Die Dichterin spricht die Gleichheit im DDR-System an. Für die Menschen war wichtig, die seelische Befindlichkeit im Griff zu haben. Das Gedicht will Balance herstellen.

Resümee zum Abschluss: die Autorin sieht den Bürger im Menschen. Letztendlich thematisiert sie das Subjektive im Einzelnen. Die Stärke, die hieraus erwächst, ermöglicht das Überleben im Kontext des übergeordneten Kollektivs. Das Vernunftwesen Mensch ist ein ‚zoon politikon‘, d. h. ein zum geregelten gesellschaftlichen Zusammenleben befähigtes Wesen. In einem kosmopolitischen Rahmen oder auch über das Christentum gedacht ist der Mensch ein begnadetes Wesen. Es kann ihm gelingen, Freiheit von den Bestimmungen durch Affekte oder materielle Strebungen zu erreichen. Sieht man sich als Teil eines Weltbürgertums im allverbindenden Geist, ist das die Selbstverwirklichung. Im Aspekt der Freiheit geht es entschieden um die Freiheit vom Bösen, die zugleich ein Freisein für das Gute darstellt.

Die Autorin möchte dem Leser Spannungsfelder aufzeigen, z. B. Emotionalität vs. Rationalität. Ihr Rezept ist, die Ebene des persönlichen Ansprechens zu erweitern, ein schmaler Grat, den der Einzelne zu begehen hat. Sie fasst den Mensch als politischen Menschen und gleichzeitig als soziokulturelles Wesen auf. Gesellschaft und Staat sind vereint, das Resultat des geselligen Wesens Mensch.